Überblickskommentar, Kapitel 11.7: Historismus-Kontext 315
heim 1970, 253). Damit grenzt er sich von denjenigen ab, die „vom Standorte
der Aufklärungsphilosophie die sich entfaltenden neuen Einsichten des Histo-
rismus von vornherein ablehnen“, weil sie die „Lehre von der Überzeitlichkeit
der Vernunft“ nicht zur Disposition stellen wollen (ebd., 253-254). Mit Nach-
druck wendet sich Mannheim gegen den „Vorwurf des Relativismus“, mit dem
Aufklärungsphilosophen, insbesondere die Kantianer, eine „Widerlegung des
Historismus“ anstreben, und zwar durch das Konzept einer „Apriorität der for-
malen Bestimmungen der Vernunft“ (ebd., 254).
Im Unterschied zu Heinrich Rickert und Karl Jaspers (vgl. dazu ausführli-
cher das folgende Kapitel II.8) hält Mannheim den Relativismus-Vorwurf gegen
den Historismus nicht für gerechtfertigt und betrachtet den Anspruch, damit
den Historismus zu widerlegen, als verfehlt. Seine eigene Auffassung kleidet
er in eine rhetorische Frage, die zugleich den Zusammenhang von geschichts-
philosophischen Überlegungen und erkenntnistheoretischen Prämissen deut-
lich macht: „Und endlich: was dann, wenn sich zeigen läßt, daß der Vorwurf
des Relativismus aus einer Philosophie stammt, die eine unvollständige Kon-
zeption von absolut und relativ hat, die wahr und falsch in einer Alternative
gegenüberstellt, wie sie sich wohl im Gebiete der sog. exakten Wissenschaften
auffinden läßt, während das Gebiet der Geschichte uns zeigt, daß es Erkennt-
nisse über den gleichen Sachverhalt gibt, die nicht wie wahr und falsch, son-
dern prinzipiell nur als perspektivische, als standortsgebundene nebeneinan-
dergestellt werden können“ (ebd., 256-257). In dieser Hinsicht ergeben sich
auch Affinitäten zu N.s Perspektivismus. Den entscheidenden Antagonismus
betont Mannheim, indem er auf die „Konfrontierung der letzten Positionen einer
statischen Vernunftphilosophie und einer dynamisch-historistischen Lebensphilo-
sophie“ hinweist (ebd., 257). Mit dieser Aussage hebt er die Einheit von Vitalis-
mus und Historismus hervor.
Im Unterschied zu Mannheim übt Walter Eucken in seiner Schrift Die
Überwindung des Historismus von 1938, die seinem Hauptwerk Die Grundlagen
der Nationalökonomie (1940) voranging, in einer umfassenden Argumentation
radikal Kritik am Historismus. Er sieht eine Gemeinsamkeit von Marx, Dilthey
und N. über alle Differenzen hinweg im Engagement „für die Durchsetzung
der historistisch-relativistischen Haltung: Entwicklungsgedanke, Glaube an
das Leben und Irrationalismus vereinigten sich. [...] Nietzsche sah zwar die
drohende Gefahr, aber - wie auch sonst oft - hat er vieles dazu getan, um
sie zu vergrößern. Bei ihm steigert sich der Historismus zum reinen Subjekti-
vismus“ (Eucken 1938, 194-195). Anschließend bezeichnet Eucken „Spengler
und Klages und Jaspers und Heidegger“ als die „Nietzsche-Schüler“, die his-
toristische und vitalistische Konzepte „umgeprägt und in Umlauf gebracht“
haben (ebd., 195). Seit dem 19. Jahrhundert sieht Eucken „die meisten Wissen-
heim 1970, 253). Damit grenzt er sich von denjenigen ab, die „vom Standorte
der Aufklärungsphilosophie die sich entfaltenden neuen Einsichten des Histo-
rismus von vornherein ablehnen“, weil sie die „Lehre von der Überzeitlichkeit
der Vernunft“ nicht zur Disposition stellen wollen (ebd., 253-254). Mit Nach-
druck wendet sich Mannheim gegen den „Vorwurf des Relativismus“, mit dem
Aufklärungsphilosophen, insbesondere die Kantianer, eine „Widerlegung des
Historismus“ anstreben, und zwar durch das Konzept einer „Apriorität der for-
malen Bestimmungen der Vernunft“ (ebd., 254).
Im Unterschied zu Heinrich Rickert und Karl Jaspers (vgl. dazu ausführli-
cher das folgende Kapitel II.8) hält Mannheim den Relativismus-Vorwurf gegen
den Historismus nicht für gerechtfertigt und betrachtet den Anspruch, damit
den Historismus zu widerlegen, als verfehlt. Seine eigene Auffassung kleidet
er in eine rhetorische Frage, die zugleich den Zusammenhang von geschichts-
philosophischen Überlegungen und erkenntnistheoretischen Prämissen deut-
lich macht: „Und endlich: was dann, wenn sich zeigen läßt, daß der Vorwurf
des Relativismus aus einer Philosophie stammt, die eine unvollständige Kon-
zeption von absolut und relativ hat, die wahr und falsch in einer Alternative
gegenüberstellt, wie sie sich wohl im Gebiete der sog. exakten Wissenschaften
auffinden läßt, während das Gebiet der Geschichte uns zeigt, daß es Erkennt-
nisse über den gleichen Sachverhalt gibt, die nicht wie wahr und falsch, son-
dern prinzipiell nur als perspektivische, als standortsgebundene nebeneinan-
dergestellt werden können“ (ebd., 256-257). In dieser Hinsicht ergeben sich
auch Affinitäten zu N.s Perspektivismus. Den entscheidenden Antagonismus
betont Mannheim, indem er auf die „Konfrontierung der letzten Positionen einer
statischen Vernunftphilosophie und einer dynamisch-historistischen Lebensphilo-
sophie“ hinweist (ebd., 257). Mit dieser Aussage hebt er die Einheit von Vitalis-
mus und Historismus hervor.
Im Unterschied zu Mannheim übt Walter Eucken in seiner Schrift Die
Überwindung des Historismus von 1938, die seinem Hauptwerk Die Grundlagen
der Nationalökonomie (1940) voranging, in einer umfassenden Argumentation
radikal Kritik am Historismus. Er sieht eine Gemeinsamkeit von Marx, Dilthey
und N. über alle Differenzen hinweg im Engagement „für die Durchsetzung
der historistisch-relativistischen Haltung: Entwicklungsgedanke, Glaube an
das Leben und Irrationalismus vereinigten sich. [...] Nietzsche sah zwar die
drohende Gefahr, aber - wie auch sonst oft - hat er vieles dazu getan, um
sie zu vergrößern. Bei ihm steigert sich der Historismus zum reinen Subjekti-
vismus“ (Eucken 1938, 194-195). Anschließend bezeichnet Eucken „Spengler
und Klages und Jaspers und Heidegger“ als die „Nietzsche-Schüler“, die his-
toristische und vitalistische Konzepte „umgeprägt und in Umlauf gebracht“
haben (ebd., 195). Seit dem 19. Jahrhundert sieht Eucken „die meisten Wissen-