Überblickskommentar, Kapitel 11.7: Historismus-Kontext 317
dauernde Wahrheit aussprechen zu dürfen. Hiermit widerspricht er sich selbst“
(ebd., 199). Der substantielle Einwand Euckens zielt also darauf, dass der His-
torismus für sich selbst einen Sonderstatus beansprucht, der außerhalb des
Gültigkeitsbereichs des Wahrheitsrelativismus liegt. Da dieser im Historismus
zwar prinzipiell vorausgesetzt, aber nicht auf das eigene Konzept angewendet
wird, ist der Wahrheitsrelativismus des Historismus laut Walter Eucken also
mit einer immanenten Inkonsequenz verbunden. Ein unlösbares Dilemma at-
testiert er dem Historismus, weil dieser „die Schöpfermacht der Geschichte und
des Lebens verabsolutiert“ und darin „eine absolut gültige Wahrheit gefunden
zu haben“ meint. Die Problematik besteht laut Eucken also darin, dass gerade
der Glaube „an die objektive Wahrheit“ der „historisch-relativistischen Haupt-
these“ diese selbst ab absurdum führt, sie also „zerstört“ (ebd., 200).
Von Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften ausgehend, beschäf-
tigt sich Erich Rothacker mit dem Historismus. In seiner Abhandlung Die dog-
matische Denkform in den Geisteswissenschaften und das Problem des Historis-
mus (1954) attestiert er dem Historismus zwar ein Relativismus-Problem,
betrachtet dieses aber als konstitutiv für die Inhalte moderner Geisteswissen-
schaften generell und hält daher eine Überwindung des Historismus nicht für
wünschenswert, zumal mit dem Relativismus, der aus dem schöpferischen Le-
ben4 selbst entspringe, ein Pluralismus von ,Kultursystemen4 einhergehe (vgl.
Rothacker 1954, 239-298). Insofern verbindet sich mit Rothackers Befürwor-
tung des Historismus zugleich ein lebensphilosophischer Akzent.
Vor dem Hintergrund des überaus kontroversen, über N.s Schaffensperiode
weit hinausreichenden Historismus-Diskurses, zu dessen Facetten bereits die
eingangs erwähnte Hegel-Kritik in Rudolf Hayms Buch Hegel und seine Zeit
(1857) zählt, konnte N. an bereits vorhandene Traditionslinien anknüpfen, zu
denen auch der von Schopenhauer übernommene Anti-Hegelianismus gehört.
Die Frontstellung gegen Hegel bestimmt in UB II HL die Polemik, die N. trotz
fundamentaler Gemeinsamkeiten und weitreichender Adaptationen gegen den
Bestseller-Autor Eduard von Hartmann und dessen geschichtsteleologische
Vorstellung des ,Weltprozesses4 und der ,Welthistorie4 richtet (314, 7, 20). Mit
seiner Kritik an Eduard von Hartmann verfolgte N. mehrere Ziele: Zum einen
wollte er in ihm einen Hegelianer attackieren, der freilich - was N. ganz über-
geht - auch stark auf Schelling zurückgriff und erkannte, dass Schopenhauer
mit seinem philosophischen Konzept nachweislich der Freiheitsschrift Schel-
lings von 1809 viel verdankte (vgl. dazu NK 313, 34 - 314, 3). Zum anderen
wollte N. die Debatte aktualisieren und sich dabei auch als entschiedener
Schopenhauer-Anhänger positionieren, denn Eduard von Hartmann hatte in
einem Kapitel der Philosophie des Unbewußten die Philosophie Schopenhauers
trotz substantieller Entlehnungen aus ihr kritisiert.
dauernde Wahrheit aussprechen zu dürfen. Hiermit widerspricht er sich selbst“
(ebd., 199). Der substantielle Einwand Euckens zielt also darauf, dass der His-
torismus für sich selbst einen Sonderstatus beansprucht, der außerhalb des
Gültigkeitsbereichs des Wahrheitsrelativismus liegt. Da dieser im Historismus
zwar prinzipiell vorausgesetzt, aber nicht auf das eigene Konzept angewendet
wird, ist der Wahrheitsrelativismus des Historismus laut Walter Eucken also
mit einer immanenten Inkonsequenz verbunden. Ein unlösbares Dilemma at-
testiert er dem Historismus, weil dieser „die Schöpfermacht der Geschichte und
des Lebens verabsolutiert“ und darin „eine absolut gültige Wahrheit gefunden
zu haben“ meint. Die Problematik besteht laut Eucken also darin, dass gerade
der Glaube „an die objektive Wahrheit“ der „historisch-relativistischen Haupt-
these“ diese selbst ab absurdum führt, sie also „zerstört“ (ebd., 200).
Von Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften ausgehend, beschäf-
tigt sich Erich Rothacker mit dem Historismus. In seiner Abhandlung Die dog-
matische Denkform in den Geisteswissenschaften und das Problem des Historis-
mus (1954) attestiert er dem Historismus zwar ein Relativismus-Problem,
betrachtet dieses aber als konstitutiv für die Inhalte moderner Geisteswissen-
schaften generell und hält daher eine Überwindung des Historismus nicht für
wünschenswert, zumal mit dem Relativismus, der aus dem schöpferischen Le-
ben4 selbst entspringe, ein Pluralismus von ,Kultursystemen4 einhergehe (vgl.
Rothacker 1954, 239-298). Insofern verbindet sich mit Rothackers Befürwor-
tung des Historismus zugleich ein lebensphilosophischer Akzent.
Vor dem Hintergrund des überaus kontroversen, über N.s Schaffensperiode
weit hinausreichenden Historismus-Diskurses, zu dessen Facetten bereits die
eingangs erwähnte Hegel-Kritik in Rudolf Hayms Buch Hegel und seine Zeit
(1857) zählt, konnte N. an bereits vorhandene Traditionslinien anknüpfen, zu
denen auch der von Schopenhauer übernommene Anti-Hegelianismus gehört.
Die Frontstellung gegen Hegel bestimmt in UB II HL die Polemik, die N. trotz
fundamentaler Gemeinsamkeiten und weitreichender Adaptationen gegen den
Bestseller-Autor Eduard von Hartmann und dessen geschichtsteleologische
Vorstellung des ,Weltprozesses4 und der ,Welthistorie4 richtet (314, 7, 20). Mit
seiner Kritik an Eduard von Hartmann verfolgte N. mehrere Ziele: Zum einen
wollte er in ihm einen Hegelianer attackieren, der freilich - was N. ganz über-
geht - auch stark auf Schelling zurückgriff und erkannte, dass Schopenhauer
mit seinem philosophischen Konzept nachweislich der Freiheitsschrift Schel-
lings von 1809 viel verdankte (vgl. dazu NK 313, 34 - 314, 3). Zum anderen
wollte N. die Debatte aktualisieren und sich dabei auch als entschiedener
Schopenhauer-Anhänger positionieren, denn Eduard von Hartmann hatte in
einem Kapitel der Philosophie des Unbewußten die Philosophie Schopenhauers
trotz substantieller Entlehnungen aus ihr kritisiert.