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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0360
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334 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

dennoch distanziert er sich von N.s exklusivem Geistesaristokratismus, weil er
selbst das „wirkliche Ich“ gerade „nicht in dem Außerordentlichen“, sondern
im „Dauernden“ und Gewohnt-Verlässlichen situiert und darin zugleich „die
tiefste philosophische Wendung der demokratischen Tendenz“ erblickt (ebd.,
221). Für N. hingegen zähle allein „die jeweils höchste Spitze“, um das Niveau
des „Typus Mensch“ zu bestimmen (ebd., 223). Dabei fungiere der „Höhepunkt
menschlicher Qualitäten“ für ihn keineswegs als „Mittel zu irgendeinem sozia-
len Gut oder Fortschritt“, sondern sei „ihm schlechthin Selbstzweck“ (ebd.,
223).
In seinem schon 15 Jahre früher erschienenen Buch Die Probleme der Ge-
schichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie (1892, 2., völlig verän-
derte Aufl. 1905) postuliert Georg Simmel eine Befreiung vom Historismus
(Simmel 1905, 5. Aufl. 1923, VII). In mehreren Passagen entfaltet er Perspekti-
ven, die durchaus Affinitäten zu UB II HL erkennen lassen, ohne dass sich Sim-
mel dabei ausdrücklich auf N. beruft. Dies gilt etwa für seine Vorstellung von
einer geschichtlichen „Konstruktion [...], der mit Sicherheit keine ge-
schichtlich-reale Einheit entspricht“, weil sie „ein bloß ideelles Gebilde“ ist,
„eine Fiktion, im Kopfe des Historikers erwachsen“ (ebd., 33). Vgl. dazu auch
den Kontext (ebd., 33-49). Laut Simmel gehört es „zu den erkenntnistheoreti-
schen Wurzeln des Historismus, sich über die jenseits alles Historischen liegen-
den Voraussetzungen der geschichtlichen Konstruktionen nicht klarzuwerden“
(ebd., 35). In gewisser Nähe zu den Prämissen der Kantischen Transzendental-
philosophie konstatiert Simmel, der Kant auch mehrmals erwähnt: „immer
noch meint ein empiristischer Historismus durch das bloße Hinsehen auf die
historische Wirklichkeit4 denjenigen Zusammenhang in dieser zu gewinnen,
den man schon haben muß, damit die Wirklichkeit für uns überhaupt eine
historische werde“ (ebd., 37). Nicht von einer Koinzidenz zwischen der „zeitli-
chen Wirklichkeit und meinen Gedanken“ sei auszugehen, sondern von „ei-
nem Bild, als Deutung, Auswahl, Zusammenstellung“ (ebd., 38). An die Stelle
von historischer Faktizität trete mithin „eine intellektuelle Nachbildung durch
Kausalhypothesen, psychologische Konstruktionen, Analysen“ (ebd, 39) und
„Projizierung“ (ebd., 42). Dabei kommen „die Tatsachen zu ihrem konstrukti-
ven historischen Sinn erst durch die Formungskraft von Voraussetzungen über-
tatsächlicher Art“ (ebd., 207).
Obwohl Simmel in diesem Sinne konstatiert: „Geschichte ist mehr als Ge-
schichte“ (ebd., 137), beschreibt er sie in „ihrer spezifischen Bedeutung“ als
„die Wissenschaft vom Wirklichen“ und situiert sie „jenseits des ideellen Rei-
ches der Gesetze“ (ebd., 137) und der Naturkausalität, weil sie sich auf „histori-
sche Individualität“ konzentriere, also auf konkrete „Gruppen und Situatio-
nen, Zustände und Gesamtentwicklungen“ (ebd., 189). Allerdings lege die „als
 
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