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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0361
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 335

Feststellung äußerer Daten und als deren psychologische Deutung“ zu verste-
hende „Historik“ bei einer „philosophischen Betrachtung“ zugleich die Frage
nahe, ob „das Ganze“ dabei über die „Summe empirischer Einzelheiten“ hi-
nausreicht (ebd., 159) - etwa im Sinne einer „absoluten Realität, die hinter
aller Geschichte steht, wie das Ding-an-sich hinter der Erscheinung“ (ebd.,
160). Unter Einbeziehung von transzendentalphilosophischen Überlegungen
dieser Art spricht sich Simmel für die „Beseitigung des naiven Realismus“ aus
(ebd., 53) und betont daher, „daß die historische Wahrheit durchaus nicht als
eine Abspiegelung der historischen Wirklichkeit gelten darf“ (ebd., 71). In
bewusster Abgrenzung von solchen Prämissen insistiert er auf dem „Spiel-
raum der künstlerischen Phantasie“ und damit auf dem „subjektiven Faktor“
(ebd., 72-73). Analog zu der in UB II HL von N. formulierten Kritik an Rankes
Objektivitätspostulat meldet diesbezüglich auch Simmel Bedenken an, indem
er „den Wunsch“ Rankes, „er möchte sein Selbst auslöschen, um die Dinge
zu sehen, wie sie an sich gewesen sind“ (ebd., 77), als eine in erkenntnis-
theoretischer Hinsicht problematische Vorstellung betrachtet, weil dann
„nichts übrig bleiben“ würde, „wodurch man die Nicht-Ichs begreifen könnte“
(ebd., 77).
Und wenn Simmel im Rahmen seiner „Philosophie der Historik“ (ebd., 83)
den Historiker als Künstler charakterisiert, dann sind ebenfalls markante Kor-
respondenzen mit UB II HL zu erkennen: Denn schon N. verwirft die (von Ran-
ke vertretene) Vorstellung, „Geschichte objectiv [zu] denken“, indem er ihr das
Konzept ästhetischer Komposition entgegenhält, die „ein künstlerisch wahres,
nicht ein historisch wahres Gemälde“ entstehen lasse (290, 15-16). Von dieser
Prämisse ausgehend, forciert N. sein Konzept der Historie noch durch provoka-
tive Zuspitzung, wenn er sogar „eine Geschichtsschreibung“ für möglich hält,
„die keinen Tropfen der gemeinen empirischen Wahrheit in sich hat und doch
im höchsten Grade auf das Prädicat der Objectivität Anspruch machen dürfte“
(290, 24-26). Hier dominiert die Vorstellung einer perspektivischen Konstruk-
tion der Geschichte zugunsten von Vitalinteressen - im Sinne eines ,Nutzens4
der ,Historie4 für das ,Leben4 gemäß dem Plädoyer: „nur wenn die Historie es
erträgt, zum Kunstwerk umgebildet, also reines Kunstgebilde zu werden, kann
sie vielleicht Instincte erhalten oder sogar wecken“ (296, 18-21). Zu diesem
Prinzip einer Konstruktion der Historie vgl. NK 290, 12-21 sowie die Kritik in
Kapitel II.9, Abschnitt 5.
Im Nachlass von Max Scheier befindet sich das 1927 von ihm angelegte
sogenannte „Nietzsche-Heft“ (Signatur der Bayerischen Staatsbibliothek Mün-
chen: Ana 315, B. I. 21), transkribiert von Maria Scheier. In dieser noch nicht
vollständig publizierten Kladde (164 Manuskript-Seiten), deren komplette Edi-
tion Wolfhart Henckmann derzeit vorbereitet, ergibt sich die detaillierte Bin-
 
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