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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0376
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350 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

entfaltet Heinrich Rickert in seinem Buch Die Philosophie des Lebens. Darstel-
lung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit (1920). Hier
setzt er sich mit dem Antirationalismus lebensphilosophischer Konzepte von
„Nietzsche und Bergson“ (Rickert 1920, 100), aber auch von Wilhelm Dilthey,
Georg Simmel und William James auseinander, in denen „die Wahrheit eines
Gedankens“ - analog zu N.s Historienschrift - nach „seinem Nutzen für das
Leben“ bemessen wird (ebd., 25). Laut Rickert ist „Nietzsche [...] der am meis-
ten charakteristische deutsche Vertreter der neuesten Lebensphilosophie“, die
sich indes nicht auf „bloße Lebensstimmung oder prophetische Lebensbeja-
hung“ beschränke, sondern „aus ihren biologistischen Motiven erst ganz [zu]
verstehen“ sei (ebd., 96). Angeregt von Schopenhauers Willensmetaphysik und
seinem Verdikt über die Masse als bloße „Fabrikware der Natur“, habe N. zu-
nächst auch unter Einfluss des Darwinismus „eine Theorie des unstillbaren
Lebensdranges“ entfaltet, sei aufgrund seines „romantisch-aristokratischen“
Individualismus in Distanz zu demokratischen Prinzipien geraten und habe
sich schließlich einer „antidarwinistischen Biologie“ genähert (ebd., 96): „In
der Steigerung des Lebenswillens fand er als typischer Vertreter der neuesten
Lebensphilosophie schließlich den Sinn des Lebens überhaupt“ (ebd., 97). Da-
bei folge N. auch seiner Präferenz für das große Individuum, vor allem für
„das Genie“, beweise dabei allerdings (entgegen seiner Intention), „daß die
Lebendigkeit des Lebens sich zum Verständnis seiner Werte in keiner Weise
eignet (ebd., 139).
Nach Rickerts Ansicht hat N. „mit ungewöhnlicher Sprachgewalt“ dem
Wort „Leben erst den Glanz verliehen“, der den Lebensbegriff schließlich als
„allgemein verbreitetes philosophisches Schlagwort“ populär werden ließ
(ebd., 19). Das Charakteristikum „der modernen Lebensphilosophie“, die allein
mit dem aufgrund seiner Vieldeutigkeit „so beliebt[en]“ Lebensbegriff „die ge-
samte Welt- und Lebensanschauung“ glaubt „aufbauen“ zu können, erblickt
Rickert im „Standpunkt der Lebensimmanenz“ (ebd., 5). Allerdings sieht
er eine solche Verabsolutierung des Vitalismus in eine fundamentale Proble-
matik münden: „Das Leben selber soll aus dem Leben heraus ohne Hilfe ande-
rer Begriffe philosophieren, und eine solche Philosophie muß sich dann unmit-
telbar erleben lassen“ (ebd., 5). In kritischer Auseinandersetzung mit N. und
Simmel insistiert Rickert auf der kategorialen Differenz von Leben und Lebens-
begriff (vgl. ebd., 68-69) und weist zugleich auf den „Widersinn jedes theoreti-
schen Relativismus“ hin, mithin „jedes Versuchs, die Wahrheit in den Fluß des
Geschehens hineinzuziehen“ (ebd., 69).
Dabei argumentiert Rickert psychologisch, indem er „die Ueberschätzung
des bloßen Lebens“ als Resultat „einer Lebensnot“ deutet, aus der man jedoch
„keine philosophische Tugend machen“ dürfe, wie es „Nietzsche getan“ habe
 
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