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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0377
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 351

(ebd., 136). Mit einem bloß scheinbaren Paradoxon führt er N.s heroische „Vita-
litätsverherrlichung“ gerade auf sein Leiden am Leben infolge schwerer Krank-
heitszustände zurück (ebd., 137). Ausgehend vom individuellen Fall N.s, er-
weitert Rickert diese Perspektive kulturpsychologisch und hält sogar eine
Generalisierung solcher Konstellationen für möglich. Das zeigt seine rhetori-
sche Frage: „Sollte alle moderne Lebensbegeisterung und Vitalitätsverherrli-
chung sich vielleicht als Symptom der Lebensschwäche enthüllen?“ (ebd., 137).
Darüber hinaus zieht Rickert allerdings auch subjektive Motive anderer Art
als Ursachen für die Hochkonjunktur des zeitgenössischen Vitalismus in Be-
tracht. Seines Erachtens ist es „zweifellos der Kampf gegen das System“, wel-
cher „der modernen Lebensphilosophie viele Anhänger verschafft“ hat, und
zwar aufgrund einer Antipathie gegen „das systematische Denken“ generell
(ebd., 144). Deshalb sieht sich Rickert dazu herausgefordert, „auch die Stellung
der modernen Lebensbewegung zum philosophischen System grundsätzlich zu
erörtern“, allerdings ohne dabei die Position eines „einseitigen Intellektua-
lismus“ zu befürworten (ebd., 144). Seines Erachtens ist die „Antisystematik“
lebensphilosophischer „Weltanschauung“ irrelevant „für die Wissenschaft“
(ebd., 145). Aus diesem Grund hält Rickert N.s apodiktische Maxime „Der Wille
zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit“ (KSA 6, 63, 9), die sich zwar
erst in der Götzen-Dämmerung findet, seinen gedanklichen Gestus aber schon
lange vor diesem Spätwerk kennzeichnet, für das Produkt „moralfanatische [r]
Intoleranz“, gegen die sich der „wissenschaftliche Mensch“ wehren dürfe
(Rickert 1920, 145). Im näheren Kontext dieser Einschätzungen verleiht Rickert
auch seiner Überzeugung Ausdruck, „daß der Prophet des bloßen Lebens sich
selbst nicht versteht“, wenn ihm entgeht, dass „nur Werte, die mehr als Le-
benswerte sind, dem Leben Wert verleihen“ (ebd., 145).
Grundsätzlich distanziert sich Rickert von den Tendenzen einer „intuitiven
Lebensphilosophie“, weil er dadurch die „eigentlich philosophische Arbeit“
suspendiert sieht, die seines Erachtens stets auf eine „eindeutige Bestimmung“
und begriffliche „Fixierung“ ausgerichtet sein soll (ebd., 53). Auf der Basis die-
ser methodischen Prämisse betont Rickert die „philosophische Unmöglichkeit“
der Lebensphilosophie (ebd., 51) und plädiert daher entschieden für eine Ab-
kehr vom Antirationalismus, der bereits seit der Polemik „gegen den sokrati-
schen Menschen“ und den Bildungsphilister in N.s Tragödien- und Historien-
schrift die philosophische Mode der Lebensphilosophie maßgeblich bestimme
(vgl. ebd., 58). Denn eine „intuitiv erfaßte oder geahnte Wahrheit ist“ nach
Rickerts Überzeugung „lediglich eine Vorstufe des Erkennens, nicht etwa ein
Erkenntnisideal“ (ebd., 54). - Trotz seiner prinzipiellen Vorbehalte gegen einen
antirationalistischen Gestus konzediert Rickert den lebensphilosophischen
Konzepten von N., Dilthey, Simmel, Bergson und James immerhin „große Ver-
 
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