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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0378
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352 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

dienste für die wissenschaftliche Philosophie“, und zwar durch die Kritik
„rationalistisch-metaphysischer Dogmen“ (ebd., 177). Seiner Ansicht nach hat
diese Kritik durchaus als „eine befreiende Tat“ gewirkt: nämlich als Beitrag
zur Überwindung eines „einseitigen Rationalismus“ (ebd., 177).
Theodor Lessing sieht in einer schmalen Monographie mit dem Titel
Nietzsche (1925) die Unzeitgemässen Betrachtungen insgesamt dadurch gekenn-
zeichnet, dass sie N.s „antikisierende Sprachkunst auf der Höhe ihrer reifen
Meisterschaft“ zeigen (Lessing 1925, 27). Zugleich wundert er sich allerdings -
zumindest im Falle von UBI DS entgegen der tatsächlichen Sachlage - darü-
ber, dass UB I DS und UB II HL, „obwohl sie nur verneinender Natur sind, doch
ausgewogener und großzügiger geriethen als die beiden bejahenden“, nämlich
UB III SE und UB IV WB (ebd., 27). Anschließend betont Lessing die besondere
Bedeutung von UB II HL, jedoch auffälligerweise mit fehlerhafter Titelangabe:
„Weitaus die wichtigste dieser Schriften, und eine der besten Schriften Nietz-
sches überhaupt, ist die Studie über ,Nachteil und Nutzen der Weltgeschichte4,
denn in ihr wird eine neue Frage gestellt, welche die Menschen nie wieder zur
Ruhe kommen lassen wird und zuletzt zur Auflösung aller Voraussetzungen
unseres gegenwärtigen Denkens führen muß“ (ebd., 28). Als innovativ hebt
Lessing dann Folgendes an N.s Historienschrift hervor: „Nietzsche entdeckte
zum ersten Male die Wahrheit, daß wir unsre Geschichte, auslesend, wertend,
als ein zweites geistiges Selbst, als eine ,Welt der Wirklichkeit4 anhand einer
ideologischen Sphäre [...] in das Lebenselement hineinbauen“, und zwar - so
Lessing - „nach Wünschbarkeitsgesichtspunkten, die er als die monumentale
(d. h. heroische), die antiquarische (d. h. pietätbedingte) und die kritische (d. h.
psychologisch interessierte) Geschichtschreibung noch recht vorläufig und
ganz ungefähr zu kennzeichnen versuchte“ (ebd., 28-29).
Allerdings scheint Lessing N. in einer Hinsicht sogar selbst überbieten zu
wollen, wenn er die Ansicht vertritt, trotz aller „erkenntniskritischen Verzweif-
lung“ habe er in UB II HL die Prämisse einer linearen Abfolge historischer Er-
eignisse „nie angezweifelt“ und sei deshalb auch nicht zu der weiterführenden
Einsicht gelangt, dass „das einreihige, lineare Zeitkontinuum selber ein Gedan-
ke der Mechanik, nimmermehr aber Seiendes ist“ (ebd., 28). In diesem Zusam-
menhang verweist Lessing auf den ,,Grundgedanke[n]“ seiner „eignen Welt-
schau“, die er bereits 1919 in seinem Buch Geschichte als Sinngebung des
Sinnlosen. Oder die Geburt der Geschichte aus dem Mythos entfaltet habe (ebd.,
28). Hier kommt Lessing schon sechs Jahre vor der Monographie Nietzsche auf
das triadische Konzept der Historie in UB II HL zu sprechen, das er selbst aller-
dings durch ein größeres Spektrum von ,,Geschichtsbilder[n]“ zu ergänzen ver-
sucht. Dabei scheint ihm die radikale Intention, die N. mit der,kritischen Histo-
rie4 (269, 8 - 270, 24) verbindet, nicht klar zu sein. Denn in der folgenden
 
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