Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0379
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 353

Textpassage glaubt er die ,kritische Historie4 durch „Geschichte aus Neugier“
explizieren zu können (Lessing 1919, 4. Aufl. 1927, 88):
„Sei es bewußt, sei es unbewußt: Geschichte geht aus auf Erfüllung gewisser Willens-
Prämeditive. [...] Es gibt weit mehr geschichtebildende Vorgefühle, als man bisher ahnte.
So kennt Friedrich Nietzsche nur ihrer drei: Geschichte aus Ehrfurcht (antiquarische His-
torie), Geschichte aus Neugier (kritische Historie), Geschichte aus dem Bedürfnis nach
Heldenverehrung (monumentale Historie). Demgegenüber muß bemerkt sein, daß aus
allen drei Werthaltungssphären, aus der künstlerischen, moralischen oder logischen,
zahllose unterschiedliche Geschichtsbilder hervorblühen: Geschichte aus Hoffnung und
Ermutigung; Geschichte aus Moralbedürfnis und Rechtfertigungswille; Geschichte aus
Machtbegierde und aus Bedürfnis nach heroischer Verklärung. Und jedes beliebige Inte-
resse: religiöses oder wirtschaftliches, soziales oder asoziales, psychologisches oder eth-
nologisches kann den Griffel der Geschichte führen“.
Auf diesen Erweiterungsvorschlag zu N.s triadischem Geschichtskonzept greift
Lessing in demselben Buch an späterer Stelle erneut zurück, indem er die Plu-
ralität des Historischen zu einer unendlichen Anzahl von Möglichkeiten ent-
grenzt und sie zugleich vitalistisch grundiert: „Steigen wir nun aber aus der
normativen Welt des Geistes hinab in die dunklen Schachte der Seele, so mer-
ken wir bald, daß man Geschichte unmöglich aus einer Wurzel und auch nicht,
mit Nietzsche (monumentale, kritische, antiquarische Historie) aus drei Trieb-
mächten herleiten kann. Es gibt eben so viele Antriebe und Arten von Ge-
schichte, als es Wunsch- und Zielkräfte gibt, unzählig viele“ (ebd., 291).
In seinem Buch Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen (1919) vertritt
Theodor Lessing auch die Überzeugung, die Geschichte verwirkliche über die
bloße „Mechanik“ des ,,objektive[n] Geschehen[s]“ hinaus „Illusionen“ und
„Wunscheinblendungen“, so dass „ein Kunst- und Traumwerk“ entstehe, näm-
lich „die sinnvolle Welt überwirklichen Ereignens“ (ebd., 89). In diesen Formu-
lierungen Lessings sind deutliche Affinitäten zu N.s Konzept einer Fiktionali-
sierung historischer Geschehnisse nach Wunschprojektionen zu erkennen, die
er in UB II HL sowohl mit der ,monumentalischen Historie4 als auch mit der
,kritischen Historie4 korreliert (vgl. dazu die Problematisierung im folgenden
Kapitel II. 9, Abschnitt 5). Durch die lebensphilosophischen Prämissen Lessings
ist es bedingt, dass er ausdrücklich von der ,,mythische[n] Natur der Geschich-
te“ spricht (ebd., 298-299), die er in seinem Buch Geschichte als Sinngebung
des Sinnlosen. Oder die Geburt der Geschichte aus dem Mythos ja schon im Un-
tertitel mit programmatischem Nachdruck exponiert. Aus diesen Prämissen er-
gibt sich auch seine kulturkritische Akzentsetzung. Lessing bezieht sich näm-
lich affirmativ auf N.s Aussage in UB II HL: „Der moderne Mensch schleppt
zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich he-
rum“ (272, 23-25). Dabei goutiert Lessing dieses Gleichnis vom „überfütterte[n]
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften