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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0389
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 363

wurden in Band 46 der Heidegger-Gesamtausgabe um ausgewählte Protokolle
einiger Teilnehmer ergänzt und erstmals ediert (vgl. Heidegger: Gesamtausga-
be, Bd. 46, 2003).
Wie elf Jahre zuvor bereits in Sein und Zeit geht Heidegger in seinen schrift-
lichen Seminar-Vorbereitungen zu UBII HL ebenfalls auf N.s drei Arten der His-
torie ein. So erklärt er, das ,„Monumentale‘ in der Bedeutung des Gigantischen,
Riesigen“ ziele auf das „möglichst Eindrucksvolle und Überwältigende“ als
„das für den Blick der Gegenwart in seinen Ausmaßen noch nie Dagewesene,
worauf sich später das Vergangene als ,Großes4 stützt“ (ebd., 72). Da das „Ver-
gegenwärtigen“ des Vergangenen nicht allein dem „bloß Vergangenen“ gilt,
sondern darüber hinaus „Erinnerung [...] an menschliche Möglichkeit“ erstrebt,
ist „Erinnerung“ hier „auf ,sich‘ als den Erinnernden bezogen, als das schon
Stehende, Standbildhafte, Vor-bild-liche und so Bindende“ (ebd., 72). Dabei gehe
es nicht um „einfach nachschreibende“, alle Kausalitäten „abmalende Darstel-
lung“, vielmehr gelte das Prinzip „non facta - sed flcta. (Wahrheit als ,Richtig-
keit4)“; die „monumentale Historie ist also nicht ,wahr4, aber nützlich“, sofern
man „aus ihr lernen“ kann (ebd., 73). Im Sinne einer strategischen Indienst-
nahme historischer Wahrheit4, die dem nützlichen Effekt anstelle authenti-
scher „Wahrhaftigkeit“ verpflichtet sein soll, erklärt Heidegger: „Diese Historie
[ist] nur möglich, wenn ihre vorgenannte Wirkung gesichert [ist]; ihre Wahrheit4
richtet sich nach dem geforderten Nutzen. Sie soll antreiben. Das kann sie aber
nur durch entsprechende Übermalung, Weglassen, Erdichten, Umschreiben,
d. h. auf die ,Effekte4 als solche es absehen und diese entsprechend darstellen“
(ebd., 73). Einerseits negiert Heidegger hier also den Wahrheitsanspruch der
Historie und substituiert ihn durch pragmatische Zwecke, andererseits bemisst
er die „Wahrheit“ der Historie ausgerechnet nach dem Nützlichkeitskriterium
(ebd., S. 73), so dass der Wahrheitsbegriff bis zur Unkenntlichkeit depotenziert
erscheint. In einer späteren Passage seiner Aufzeichnungen zu UB II HL poin-
tiert Heidegger die Wahrheitsproblematik selbst durch die folgende Konklu-
sion: „Wille zur Wahrheit = Wille zum ,Glauben4 an die Wahrheit, zur Einbil-
dung, sie zu besitzen; also Wille zur Einbildung“ (ebd., 141).
Implizit greift Heidegger hier bereits auf das spätere Werk Morgenröthe
aus, in dem N. Perspektiven aus UB II HL weiterführt: „Facta! Ja Facta
f i c t a! - Ein Geschichtsschreiber hat es nicht mit dem, was wirklich geschehen
ist, sondern nur mit den vermeintlichen Ereignissen zu thun: denn nur diese
haben gewirkt“ (KSA3, 224, 26-29). Den Realitätsgehalt der „sogenannte[n]
Weltgeschichte“ (KSA 3, 224, 30) reduziert N. radikal auf bloße Imagination:
auf den „Dampf“ aus „vermeintliche[n] Handlungen und deren vermeintli-
che [n] Motive [n]44, denen er lediglich den Status „von Phantomen über den
tiefen Nebeln der unergründlichen Wirklichkeit“ zubilligt: „Alle Historiker er-
 
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