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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0399
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 373

Schaden“: „Die Gefahr, den Patienten durch Suggestion irrezuführen“, ist laut
Freud von den Kritikern der Psychoanalyse „sicherlich maßlos übertrieben
worden“ (ebd., 399).
Konstruktionen von Vergangenem, die spekulative Deutungen und sugges-
tive Interpretationen ohne Faktenbasis mit einschließen können, propagiert
vor Freuds psychoanalytischer (Re)Konstruktion von Lebensgeschichten be-
reits N. in UB II HL: Er schreibt der ,monumentalischen Historie4 auch lebens-
fördernde Suggestionen durch täuschende Analogien zu (vgl. 262, 29-30), die
sogar die Grenze zur „freien Erdichtung“ oder zur „mythischen Fiction“ über-
schreiten können (262, 15-17). Dabei deutet N. das Objektivitätspostulat zum
Prinzip ästhetischer Komposition um, das „ein künstlerisch wahres, nicht ein
historisch wahres Gemälde“ entstehen lasse (290, 15-16). In diesem Sinne hält
er sogar „eine Geschichtsschreibung“ für möglich, „die keinen Tropfen der ge-
meinen empirischen Wahrheit in sich hat und doch im höchsten Grade auf das
Prädicat der Objectivität Anspruch machen dürfte“ (290, 24-26). Hier funktio-
nalisiert N. das Prinzip einer perspektivischen Konstruktion zum Medium von
Vitalinteressen: „nur wenn die Historie es erträgt, zum Kunstwerk umgebildet,
also reines Kunstgebilde zu werden, kann sie vielleicht Instincte erhalten oder
sogar wecken“ (296, 18-21). Vgl. dazu die Kritik in Kapitel II.9, Abschnitt 5.
Auf ähnliche Weise transformiert N. die ,kritische Historie4 durch strategi-
sche Konstruktion für lebenspraktische Verwertungszwecke: In Abkehr von re-
alen Gegebenheiten versuche man sich durch einen idealen Entwurf „gleich-
sam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte,
im Gegensatz zu der, aus der man stammt“ (270, 21-23). Auch hier treten Affini-
täten zwischen N.s fiktionaler Konstruktion der Historie und Freuds Prinzip
lebensgeschichtlicher Konstruktion hervor. Darüber hinaus gibt es zahlreiche
Analogien zwischen Konzepten Freuds und N.s: etwa im Hinblick auf das Ins-
tanzenmodell der Seele, die Abkehr von traditionellen Identitätskonzepten, die
Instabilität des Ich, die moderne Massengesellschaft, das Unbewusste und den
Traum sowie hinsichtlich der Relation von Erinnern und Vergessen, von Trieb
und Sublimierung (vgl. dazu die umfassenden Darstellungen von Kaiser-El-Saf-
ti 1987 und Gasser 1997). Ganz im Sinne der späteren Psychoanalyse konstatiert
N. schon Jahre vor UB II HL in einem nachgelassenen Notat von 1870/71: „Alle
Erweiterung unsrer Erkenntniß entsteht aus dem Bewußtmachen des Unbe-
wußten“ (NL 1870/71, 5 [89], KSA 7, 116). Den Begriff der Konstruktion4 ge-
braucht N. später selbst in nachgelassenen Notaten. So schreibt er: „Affekte
sind eine Construktion des Intellekts, eine Erdichtung von Ursachen,
die es nicht giebt“ (NL 1883, 24 [20], KSA 10, 657). Und seine Distanz zu „den
Metaphysikern“ charakterisiert N. folgendermaßen: „ich gebe ihnen nicht zu,
daß das ,Ich4 es ist, was denkt: vielmehr nehme ich das Ich selber als eine
Construktion des Denkens“ (NL 1885, 35 [35], KSA 11, 526).
 
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