384 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
Abschließend seien aus der Forschungsliteratur noch einige relevante Po-
sitionen zur Wirkungsgeschichte von UBII HL referiert. Herbert Schnädel-
bach hebt in seinem Buch Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des
Historismus (1974) die „gedankliche Dichte und literarische Qualität“ von N.s
Historienschrift hervor (Schnädelbach 1974, 76). Allerdings problematisiert er
N.s Auffassung der Relation von ,Historie4 und ,Leben4, indem er mit Recht zu
bedenken gibt: „Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit Nietz-
sche [...] von Vitalitätssteigerungen unmittelbar auch Kultursteigerungen er-
wartet“ (ebd., 81). Schnädelbach begründet seinen Vorbehalt gegenüber N.s
Einschätzung mit dem psychoanalytischen Konzept der Sublimierung: „Daß
Kultur auf Triebversagung beruht, wäre der wichtigste skeptische Einwand, der
gegen Nietzsches Optimismus von Freud her vorzubringen wäre. Auch die The-
se Thomas Manns, daß kulturelle und vor allem künstlerische Leistungen gera-
de nicht Indizes einer frohen Gesundheit sind, die Nietzsche anpreist, sondern
Symptome und Kompensationen von Krankheiten und Deformationen zu sein
pflegen, ist im Zusammenhang einer Diskussion der zweiten Unzeitgemäßen
Betrachtung4 Nietzsches zu bedenken“ (ebd., 81). - Hier scheint Schnädelbach
auf Aussagen im Essay Freud und die Zukunft anzuspielen, in dem Thomas
Mann „die Krankheit als Erkenntnismittel“ charakterisiert und einen solchen
„Sinn für die Krankheit“ ausdrücklich „von Nietzsche“ glaubt „herleiten“ zu
können (Thomas Mann 1990, Bd. IX, 481). In dieser Hinsicht betont Thomas
Mann generell „die zarte Verfassung aller höheren Menschlichkeit und Kultur“
(ebd., 482) und bezeichnet den Menschen mit einem impliziten Zitat aus N.s
Schrift Zur Genealogie der Moral als „das kranke Tier“ (ebd., 482; vgl. KSA 5,
367, 3).
Laut N. ist der Mensch als der „grosse Experimentator mit sich“ (KSA 5,
367, 6) ein „muthiges und reiches Thier“ und zugleich „das am meisten gefähr-
dete“; seine existentielle „Wunde selbst“ ist es, „die ihn zwingt, zu leben...“
(KSA 5, 367, 12, 22-23). - Vor dem Hintergrund dieser kulturanthropologischen
Perspektiven in Zur Genealogie der Moral ließe sich die Einschätzung Schnädel-
bachs noch durch das Argument ergänzen, dass gerade N.s kontinuierliches
Insistieren auf der Vitalitätsdimension, das vom dionysischen Kunstprinzip in
der Tragödienschrift über den Primat des ,Lebens4 in der Historienschrift bis
zum ,Willen zur Macht4 im Spätwerk reicht, durchaus im Sinne Freuds auch als
Überkompensation der eigenen gesundheitlichen Fragilität gedeutet werden
könnte. Symptomatisch erscheint mithin N.s programmatisches Plädoyer für
die „grosse Gesundheit“, das er in Text 382 der Fröhlichen Wissenschaft formu-
liert (vgl. KSA 3, 635, 30 - 636,14) und in Ecce homo mit Bezug auf Also sprach
Zarathustra nochmals referiert (vgl. KSA 6, 337, 17 - 338, 6).
In seinem Buch Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Histo-
rismus kontrastiert Schnädelbach auch die von N. und Jacob Burckhardt vertre-
Abschließend seien aus der Forschungsliteratur noch einige relevante Po-
sitionen zur Wirkungsgeschichte von UBII HL referiert. Herbert Schnädel-
bach hebt in seinem Buch Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des
Historismus (1974) die „gedankliche Dichte und literarische Qualität“ von N.s
Historienschrift hervor (Schnädelbach 1974, 76). Allerdings problematisiert er
N.s Auffassung der Relation von ,Historie4 und ,Leben4, indem er mit Recht zu
bedenken gibt: „Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit Nietz-
sche [...] von Vitalitätssteigerungen unmittelbar auch Kultursteigerungen er-
wartet“ (ebd., 81). Schnädelbach begründet seinen Vorbehalt gegenüber N.s
Einschätzung mit dem psychoanalytischen Konzept der Sublimierung: „Daß
Kultur auf Triebversagung beruht, wäre der wichtigste skeptische Einwand, der
gegen Nietzsches Optimismus von Freud her vorzubringen wäre. Auch die The-
se Thomas Manns, daß kulturelle und vor allem künstlerische Leistungen gera-
de nicht Indizes einer frohen Gesundheit sind, die Nietzsche anpreist, sondern
Symptome und Kompensationen von Krankheiten und Deformationen zu sein
pflegen, ist im Zusammenhang einer Diskussion der zweiten Unzeitgemäßen
Betrachtung4 Nietzsches zu bedenken“ (ebd., 81). - Hier scheint Schnädelbach
auf Aussagen im Essay Freud und die Zukunft anzuspielen, in dem Thomas
Mann „die Krankheit als Erkenntnismittel“ charakterisiert und einen solchen
„Sinn für die Krankheit“ ausdrücklich „von Nietzsche“ glaubt „herleiten“ zu
können (Thomas Mann 1990, Bd. IX, 481). In dieser Hinsicht betont Thomas
Mann generell „die zarte Verfassung aller höheren Menschlichkeit und Kultur“
(ebd., 482) und bezeichnet den Menschen mit einem impliziten Zitat aus N.s
Schrift Zur Genealogie der Moral als „das kranke Tier“ (ebd., 482; vgl. KSA 5,
367, 3).
Laut N. ist der Mensch als der „grosse Experimentator mit sich“ (KSA 5,
367, 6) ein „muthiges und reiches Thier“ und zugleich „das am meisten gefähr-
dete“; seine existentielle „Wunde selbst“ ist es, „die ihn zwingt, zu leben...“
(KSA 5, 367, 12, 22-23). - Vor dem Hintergrund dieser kulturanthropologischen
Perspektiven in Zur Genealogie der Moral ließe sich die Einschätzung Schnädel-
bachs noch durch das Argument ergänzen, dass gerade N.s kontinuierliches
Insistieren auf der Vitalitätsdimension, das vom dionysischen Kunstprinzip in
der Tragödienschrift über den Primat des ,Lebens4 in der Historienschrift bis
zum ,Willen zur Macht4 im Spätwerk reicht, durchaus im Sinne Freuds auch als
Überkompensation der eigenen gesundheitlichen Fragilität gedeutet werden
könnte. Symptomatisch erscheint mithin N.s programmatisches Plädoyer für
die „grosse Gesundheit“, das er in Text 382 der Fröhlichen Wissenschaft formu-
liert (vgl. KSA 3, 635, 30 - 636,14) und in Ecce homo mit Bezug auf Also sprach
Zarathustra nochmals referiert (vgl. KSA 6, 337, 17 - 338, 6).
In seinem Buch Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Histo-
rismus kontrastiert Schnädelbach auch die von N. und Jacob Burckhardt vertre-