390 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
wart geweckt werden können, dient die Historie laut N. dem Leben, indem
sie heroische Größe fördert. Dass ein Wahrheitsanspruch der Historie dabei
allerdings aus strategischen Gründen nachhaltig eingeschränkt oder sogar sus-
pendiert wird, zeigt schon N.s Feststellung: „Die monumentale Historie täuscht
durch Analogien“ (262, 29-30).
Bis zum Postulat gezielter Illusionsbildung und bis zur Befürwortung eines
sacrificium intellectus reicht die Entfernung von realen geschichtlichen Gege-
benheiten, die N. in seiner kritischen Prognose mitteilt: Der ,ungebändigt4 wal-
tende „historische Sinn [...] entwurzelt die Zukunft, weil er die Illusionen zer-
stört“ und damit auch die lebensnotwendige „Atmosphäre“ (295, 25-28). N.
zieht seine Konsequenzen aus dieser Problematik, indem er auf den Grundsatz
historischer Gerechtigkeit verzichtet und für die Bewältigung der Vergangen-
heit durch einen sie überformenden „Kunsttrieb“ anstelle von „Wahrheits-“
und „Gerechtigkeitstrieb“ plädiert (290, 21-22). Dabei deutet er sogar das Ob-
jektivitätspostulat zu einem Prinzip ästhetischer Komposition um: „In dieser
Weise die Geschichte objectiv denken ist die stille Arbeit des Dramatikers“, der
aus historischen Details ein organisches Ganzes formt und „eine Einheit des
Planes in die Dinge“ legt, auch „wann sie nicht darinnen“ ist (290, 16-20).
Mehrere Passagen der Historienschrift lassen das Prinzip einer interessegeleite-
ten Konstruktion der Geschichte erkennen (vgl. dazu 270, 21-23 sowie 290, 12-
26 und 296,18-25). Affirmativ dazu: Heidegger, Bd. 46, 2003, 73 (vgl. die Belege
im vorangehenden Kapitel II.8).
Die Infragestellung eines historischen Wahrheitsanspruchs forciert N. so-
gar noch, wenn er später im Text 307 der Morgenröthe historische Faktizität
vollends in Fiktionalität auflöst, um schließlich sogar die Existenz von Vergan-
genem anzuzweifeln: „Ein Geschichtsschreiber hat es nicht mit dem, was wirk-
lich geschehen ist, sondern nur mit den vermeintlichen Ereignissen zu thun:
denn nur diese haben gewirkt“ (KSA3, 224, 26-29). In einem solchen Kon-
zept droht sich Geschichte allerdings ins Phantasmagorische zu verflüchtigen.
N.s Fazit lautet: „Alle Historiker erzählen von Dingen, die nie existirt haben,
äusser in der Vorstellung“ (KSA3, 225, 6-7). So reduzieren sich die „Facta
ficta“ der „sogenannte[n] Weltgeschichte“ (KSA 3, 224, 26, 30) für N. zu blo-
ßen „Phantomen über den tiefen Nebeln der unergründlichen Wirklichkeit“
(KSA 3, 225, 5-6). Dies mag zwar für Aspekte von Vor- und Frühgeschichte gel-
ten, sofern sich die historischen Ereignisse dort kaum oder gar nicht durch
Quellenmaterial empirisch verifizieren lassen und mitunter nur noch in my-
thologischer Überformung zugänglich sind. Entsprechendes lässt sich aber
schwerlich auch auf die moderne Geschichtsschreibung der vergangenen Jahr-
hunderte übertragen, die sich auf vielfältig abgesicherte Dokumente über his-
torische Prozesse stützen kann. Das gilt selbst dann, wenn man berücksichtigt,
wart geweckt werden können, dient die Historie laut N. dem Leben, indem
sie heroische Größe fördert. Dass ein Wahrheitsanspruch der Historie dabei
allerdings aus strategischen Gründen nachhaltig eingeschränkt oder sogar sus-
pendiert wird, zeigt schon N.s Feststellung: „Die monumentale Historie täuscht
durch Analogien“ (262, 29-30).
Bis zum Postulat gezielter Illusionsbildung und bis zur Befürwortung eines
sacrificium intellectus reicht die Entfernung von realen geschichtlichen Gege-
benheiten, die N. in seiner kritischen Prognose mitteilt: Der ,ungebändigt4 wal-
tende „historische Sinn [...] entwurzelt die Zukunft, weil er die Illusionen zer-
stört“ und damit auch die lebensnotwendige „Atmosphäre“ (295, 25-28). N.
zieht seine Konsequenzen aus dieser Problematik, indem er auf den Grundsatz
historischer Gerechtigkeit verzichtet und für die Bewältigung der Vergangen-
heit durch einen sie überformenden „Kunsttrieb“ anstelle von „Wahrheits-“
und „Gerechtigkeitstrieb“ plädiert (290, 21-22). Dabei deutet er sogar das Ob-
jektivitätspostulat zu einem Prinzip ästhetischer Komposition um: „In dieser
Weise die Geschichte objectiv denken ist die stille Arbeit des Dramatikers“, der
aus historischen Details ein organisches Ganzes formt und „eine Einheit des
Planes in die Dinge“ legt, auch „wann sie nicht darinnen“ ist (290, 16-20).
Mehrere Passagen der Historienschrift lassen das Prinzip einer interessegeleite-
ten Konstruktion der Geschichte erkennen (vgl. dazu 270, 21-23 sowie 290, 12-
26 und 296,18-25). Affirmativ dazu: Heidegger, Bd. 46, 2003, 73 (vgl. die Belege
im vorangehenden Kapitel II.8).
Die Infragestellung eines historischen Wahrheitsanspruchs forciert N. so-
gar noch, wenn er später im Text 307 der Morgenröthe historische Faktizität
vollends in Fiktionalität auflöst, um schließlich sogar die Existenz von Vergan-
genem anzuzweifeln: „Ein Geschichtsschreiber hat es nicht mit dem, was wirk-
lich geschehen ist, sondern nur mit den vermeintlichen Ereignissen zu thun:
denn nur diese haben gewirkt“ (KSA3, 224, 26-29). In einem solchen Kon-
zept droht sich Geschichte allerdings ins Phantasmagorische zu verflüchtigen.
N.s Fazit lautet: „Alle Historiker erzählen von Dingen, die nie existirt haben,
äusser in der Vorstellung“ (KSA3, 225, 6-7). So reduzieren sich die „Facta
ficta“ der „sogenannte[n] Weltgeschichte“ (KSA 3, 224, 26, 30) für N. zu blo-
ßen „Phantomen über den tiefen Nebeln der unergründlichen Wirklichkeit“
(KSA 3, 225, 5-6). Dies mag zwar für Aspekte von Vor- und Frühgeschichte gel-
ten, sofern sich die historischen Ereignisse dort kaum oder gar nicht durch
Quellenmaterial empirisch verifizieren lassen und mitunter nur noch in my-
thologischer Überformung zugänglich sind. Entsprechendes lässt sich aber
schwerlich auch auf die moderne Geschichtsschreibung der vergangenen Jahr-
hunderte übertragen, die sich auf vielfältig abgesicherte Dokumente über his-
torische Prozesse stützen kann. Das gilt selbst dann, wenn man berücksichtigt,