Überblickskommentar, Kapitel 11.9: Problematische Aspekte 391
dass die Gewichtung des Faktenmaterials immer auch vom fachlichen Horizont
und der Urteilskraft der Historiker abhängt, dass also das jeweils Perspektivi-
sche subjektiver Faktoren beim Sondieren geschichtlicher Daten bedeutsam
ist. (Zu kulturgeschichtlichen Hintergründen von N.s Geschichtskonzept vgl.
ergänzend NK 290, 12-21.)
Schon in UB II HL negiert N. durch die Funktionalisierung der Historie
grundsätzlich deren Wahrheitsanspruch: Denn „ein künstlerisch wahres, nicht
ein historisch wahres Gemälde ist die Folge“ (290, 15-16). Jeden Sinn verliert
das Postulat historischer „Objectivität“, wenn er sogar „eine Geschichtsschrei-
bung“ für möglich hält, „die keinen Tropfen der gemeinen empirischen Wahr-
heit in sich hat und doch im höchsten Grade auf das Prädicat der Objectivität
Anspruch machen dürfte“ (290, 24-26). - Unter Rückgriff auf Aristoteles und
Grillparzer (vgl. NK 290,12-21 und NK 290, TI - 291, 7) schreibt N. der für Zwe-
cke des Lebens in Dienst genommenen Geschichtsdeutung sogar „eine grosse
künstlerische Potenz, ein schaffendes Darüberschweben“ sowie „ein Weiter-
dichten an gegebenen Typen“ zu (292, 25-27).
Durch eine solche Ästhetisierung der Geschichte suspendiert N. die Grund-
sätze einer seriösen modernen Geschichtswissenschaft, die sich dem Prinzip
der Sachlichkeit verpflichtet weiß und sich einer objektiven Darstellung der
Historie im Sinne der Faktentreue anzunähern versucht - im Bewusstsein, dass
sich diese nie vollständig erreichen lässt. Denn natürlich ist jedem reflektierten
Historiker oder Geschichtsphilosophen die Einsicht der Hermeneutik seit Dil-
they bewusst, dass (historische) Erkenntnis immer auch von vielfältigen situa-
tiven Bedingtheiten des Erkennenden selbst beeinflusst ist, die bei der Ein-
schätzung von Realitätsbezug und Objektivitätsgehalt jeweils mitbedacht
werden müssen.
Eine Ausrichtung auf Geschichtskonstruktionen als strategische Fiktionen
verbindet sich in besonderer Weise mit N.s Konzept einer ,monumentalischen
Historie4. Unter den Prämissen eines elitären Individualismus rückt er Größe,
Tat, Kampf, Macht und Heroismus in den Fokus, indem er behauptet: „Die
Geschichte gehört vor Allem dem Thätigen und Mächtigen, dem, der einen
grossen Kampf kämpft“ (258, 13-14). Daher betont N. im historischen Prozess
„die grossen Momente im Kampfe der Einzelnen“, die für ihn einen „Höhenzug
der Menschheit durch Jahrtausende“ bilden (259, 12-14). Eine vorrangige Be-
trachtung der Geschichte unter diesem Aspekt verengt den Blick allerdings in
dem Maße, wie sie die soziale Wirklichkeit der Bevölkerungsmehrheit vernach-
lässigt, und hat insofern ein inadäquates Geschichtsbild zur Folge. Zugleich
führt sie zu der Problematik, dass die Fokussierung der ,monumentalischen
Historie4 auf große Taten und heroische Individuen das Urteil über die ge-
schichtliche Gesamtentwicklung auch im Hinblick auf die Formierung nationa-
dass die Gewichtung des Faktenmaterials immer auch vom fachlichen Horizont
und der Urteilskraft der Historiker abhängt, dass also das jeweils Perspektivi-
sche subjektiver Faktoren beim Sondieren geschichtlicher Daten bedeutsam
ist. (Zu kulturgeschichtlichen Hintergründen von N.s Geschichtskonzept vgl.
ergänzend NK 290, 12-21.)
Schon in UB II HL negiert N. durch die Funktionalisierung der Historie
grundsätzlich deren Wahrheitsanspruch: Denn „ein künstlerisch wahres, nicht
ein historisch wahres Gemälde ist die Folge“ (290, 15-16). Jeden Sinn verliert
das Postulat historischer „Objectivität“, wenn er sogar „eine Geschichtsschrei-
bung“ für möglich hält, „die keinen Tropfen der gemeinen empirischen Wahr-
heit in sich hat und doch im höchsten Grade auf das Prädicat der Objectivität
Anspruch machen dürfte“ (290, 24-26). - Unter Rückgriff auf Aristoteles und
Grillparzer (vgl. NK 290,12-21 und NK 290, TI - 291, 7) schreibt N. der für Zwe-
cke des Lebens in Dienst genommenen Geschichtsdeutung sogar „eine grosse
künstlerische Potenz, ein schaffendes Darüberschweben“ sowie „ein Weiter-
dichten an gegebenen Typen“ zu (292, 25-27).
Durch eine solche Ästhetisierung der Geschichte suspendiert N. die Grund-
sätze einer seriösen modernen Geschichtswissenschaft, die sich dem Prinzip
der Sachlichkeit verpflichtet weiß und sich einer objektiven Darstellung der
Historie im Sinne der Faktentreue anzunähern versucht - im Bewusstsein, dass
sich diese nie vollständig erreichen lässt. Denn natürlich ist jedem reflektierten
Historiker oder Geschichtsphilosophen die Einsicht der Hermeneutik seit Dil-
they bewusst, dass (historische) Erkenntnis immer auch von vielfältigen situa-
tiven Bedingtheiten des Erkennenden selbst beeinflusst ist, die bei der Ein-
schätzung von Realitätsbezug und Objektivitätsgehalt jeweils mitbedacht
werden müssen.
Eine Ausrichtung auf Geschichtskonstruktionen als strategische Fiktionen
verbindet sich in besonderer Weise mit N.s Konzept einer ,monumentalischen
Historie4. Unter den Prämissen eines elitären Individualismus rückt er Größe,
Tat, Kampf, Macht und Heroismus in den Fokus, indem er behauptet: „Die
Geschichte gehört vor Allem dem Thätigen und Mächtigen, dem, der einen
grossen Kampf kämpft“ (258, 13-14). Daher betont N. im historischen Prozess
„die grossen Momente im Kampfe der Einzelnen“, die für ihn einen „Höhenzug
der Menschheit durch Jahrtausende“ bilden (259, 12-14). Eine vorrangige Be-
trachtung der Geschichte unter diesem Aspekt verengt den Blick allerdings in
dem Maße, wie sie die soziale Wirklichkeit der Bevölkerungsmehrheit vernach-
lässigt, und hat insofern ein inadäquates Geschichtsbild zur Folge. Zugleich
führt sie zu der Problematik, dass die Fokussierung der ,monumentalischen
Historie4 auf große Taten und heroische Individuen das Urteil über die ge-
schichtliche Gesamtentwicklung auch im Hinblick auf die Formierung nationa-