Überblickskommentar, Kapitel 11.9: Problematische Aspekte 393
Das Tertium comparationis zwischen der Historienschrift und der Tragödi-
enschrift liegt in existentiellen Leidenserfahrungen (249, 256), die zur Bewälti-
gung durch ästhetische Sublimierung und strategische Illusionsbildung anre-
gen können. Mit N.s Konzept einer ,monumentalischen Historie4 lässt sich
demnach auch seine antirationalistische These in der Geburt der Tragödie ver-
binden: „Die Erkenntniss tödtet das Handeln, zum Handeln gehört das Um-
schleiertsein durch die Illusion“ (KSA 1, 57, 4-5). Zentrale Prämissen der Tra-
gödienschrift prolongieren sich insofern in die Historienschrift, etwa die
Überzeugung: „alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik“ (KSA 1,
18, 20-21). Leitend ist dabei die erkenntnisskeptische Grundtendenz, die N. im
späteren „Versuch einer Selbstkritik“ der Geburt der Tragödie zuordnet und zu-
gleich als avantgardistischen Ansatz kennzeichnet: Denn „jenes verwegene
Buch“ habe es „zum ersten Male“ gewagt, „die Wissenschaft unter der
Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des
Lebens....“ (KSA 1, 14, 8-11). Vor der Entstehung der Historienschrift grenzt
sich N. schon in der Geburt der Tragödie radikal von etablierter wissenschaftli-
cher Methodik und vom Postulat objektivierender Darstellung ab. In dem
Maße, wie er die Grenzen zwischen Realität, Kunst und Wissenschaft aufzulö-
sen sucht, gerät auch sein Konzept der Historie in eine Opposition zum Ge-
schichtsverständnis zeitgenössischer Historiker, deren Positivismus und Relati-
vismus er kritisiert.
Im Sinne hermeneutischer Prämissen stellt N. zwar zu Recht die Möglich-
keit einer völlig interesselosen Geschichtsbetrachtung in Frage. Aber mit sei-
nem eigenen Plädoyer für eine prinzipielle Interessiertheit der Historie im
Dienste des Lebens zieht er problematische Konsequenzen aus seiner im An-
satz berechtigten methodischen Metareflexion. Obwohl N. in UB II HL zunächst
mit „der Historie die Kunst“ kontrastiert, vollzieht er anschließend eine ,un-
zeitgemäße4 Synthese: „nur wenn die Historie es erträgt, zum Kunstwerk umge-
bildet, also reines Kunstgebilde zu werden, kann sie vielleicht Instincte erhal-
ten oder sogar wecken“ (296, 18-21). Eine derartig radikale Ästhetisierung der
Geschichte, die seiner Ansicht nach sogar zur Transformation der Historie in
die Kunst führen soll, sieht N. selbst im Gegensatz zum „analytischen und un-
künstlerischen“ Zeitgeist (296, 22), von dem er sich entschieden abgrenzt.
Trotz der andersgearteten Grundtendenz lässt N.s Darstellung der ,kriti-
schen Historie4 im Hinblick auf die Fiktionalisierung der Geschichte eine analo-
ge Problematik erkennen wie die ,monumentalische Historie4: Auch hier domi-
niert eine strategische Konstruktion des Gewesenen für lebenspraktische
Interessen. Denn die Erinnerung an eine negativ beurteilte Vergangenheit bil-
det die Folie für einen idealen Gegenentwurf, den N. als „Versuch“ beschreibt,
„sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stam-
Das Tertium comparationis zwischen der Historienschrift und der Tragödi-
enschrift liegt in existentiellen Leidenserfahrungen (249, 256), die zur Bewälti-
gung durch ästhetische Sublimierung und strategische Illusionsbildung anre-
gen können. Mit N.s Konzept einer ,monumentalischen Historie4 lässt sich
demnach auch seine antirationalistische These in der Geburt der Tragödie ver-
binden: „Die Erkenntniss tödtet das Handeln, zum Handeln gehört das Um-
schleiertsein durch die Illusion“ (KSA 1, 57, 4-5). Zentrale Prämissen der Tra-
gödienschrift prolongieren sich insofern in die Historienschrift, etwa die
Überzeugung: „alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik“ (KSA 1,
18, 20-21). Leitend ist dabei die erkenntnisskeptische Grundtendenz, die N. im
späteren „Versuch einer Selbstkritik“ der Geburt der Tragödie zuordnet und zu-
gleich als avantgardistischen Ansatz kennzeichnet: Denn „jenes verwegene
Buch“ habe es „zum ersten Male“ gewagt, „die Wissenschaft unter der
Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des
Lebens....“ (KSA 1, 14, 8-11). Vor der Entstehung der Historienschrift grenzt
sich N. schon in der Geburt der Tragödie radikal von etablierter wissenschaftli-
cher Methodik und vom Postulat objektivierender Darstellung ab. In dem
Maße, wie er die Grenzen zwischen Realität, Kunst und Wissenschaft aufzulö-
sen sucht, gerät auch sein Konzept der Historie in eine Opposition zum Ge-
schichtsverständnis zeitgenössischer Historiker, deren Positivismus und Relati-
vismus er kritisiert.
Im Sinne hermeneutischer Prämissen stellt N. zwar zu Recht die Möglich-
keit einer völlig interesselosen Geschichtsbetrachtung in Frage. Aber mit sei-
nem eigenen Plädoyer für eine prinzipielle Interessiertheit der Historie im
Dienste des Lebens zieht er problematische Konsequenzen aus seiner im An-
satz berechtigten methodischen Metareflexion. Obwohl N. in UB II HL zunächst
mit „der Historie die Kunst“ kontrastiert, vollzieht er anschließend eine ,un-
zeitgemäße4 Synthese: „nur wenn die Historie es erträgt, zum Kunstwerk umge-
bildet, also reines Kunstgebilde zu werden, kann sie vielleicht Instincte erhal-
ten oder sogar wecken“ (296, 18-21). Eine derartig radikale Ästhetisierung der
Geschichte, die seiner Ansicht nach sogar zur Transformation der Historie in
die Kunst führen soll, sieht N. selbst im Gegensatz zum „analytischen und un-
künstlerischen“ Zeitgeist (296, 22), von dem er sich entschieden abgrenzt.
Trotz der andersgearteten Grundtendenz lässt N.s Darstellung der ,kriti-
schen Historie4 im Hinblick auf die Fiktionalisierung der Geschichte eine analo-
ge Problematik erkennen wie die ,monumentalische Historie4: Auch hier domi-
niert eine strategische Konstruktion des Gewesenen für lebenspraktische
Interessen. Denn die Erinnerung an eine negativ beurteilte Vergangenheit bil-
det die Folie für einen idealen Gegenentwurf, den N. als „Versuch“ beschreibt,
„sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stam-