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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0429
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Stellenkommentar UB II HL Vorwort, KSA 1, S. 246 403

liches II entfaltet N. die medizinische Metapher „historische Krankheit“ (331,
9) aus UB II HL dann sogar bis zu einem allegorischen Denkbild (KSA 2, 634-
635). Auf der Basis seiner mittlerweile grundlegend veränderten Wertungsprä-
missen kodiert er dabei auch die Korrelation von Erkrankung und Heilung um,
indem er die „Historie im Ganzen, als das Wissen um die verschiedenen
Culturen“, sogar zur „Heil mit teil ehre“ erklärt (KSA 2, 634, 15-17). Später
entwirft N. in der Fröhlichen Wissenschaft einen imaginären Rückblick auf sei-
ne eigene Zeit, und zwar aus der Perspektive der Zukunft: Dabei erscheint ihm
„der historische Sinn“ als die „eigenthümliche Tugend und Krankheit“ seiner
Epoche (KSA 3, 564, 16-17). Vgl. auch NK 246, 31-32 und NK 332, 19-23.
246, 28-30 Wenn aber Goethe mit gutem Rechte gesagt hat, dass wir mit unse-
ren Tugenden zugleich auch unsere Fehler anbauen] Mit dieser Paraphrase be-
zieht sich N. auf eine Aussage im Dritten Teil (13. Buch) von Goethes autobio-
graphischem Werk Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hier findet sich
die folgende Reflexion: „Was aber den fühlenden Jüngling am meisten ängs-
tigt, ist die unaufhaltsame Wiederkehr unserer Fehler: denn wie spät lernen
wir einsehen, daß wir, indem wir unsere Tugenden ausbilden, unsere Fehler
zugleich mit anbauen. Jene ruhen auf diesen wie auf ihrer Wurzel, und diese
verzweigen sich insgeheim ebenso stark und so mannigfaltig als jene im offen-
baren Lichte. Weil wir nun unsere Tugenden meist mit Willen und Bewußtsein
ausüben, von unseren Fehlern aber unbewußt überrascht werden, so machen
uns jene selten einige Freude, diese hingegen beständig Not und Qual. Hier
liegt der schwerste Punkt der Selbsterkenntnis, der sie beinah unmöglich
macht. Denke man sich nun hiezu ein siedend jugendliches Blut, eine durch
einzelne Gegenstände leicht zu paralysierende Einbildungskraft, hiezu die
schwankenden Bewegungen des Tags, und man wird ein ungeduldiges Stre-
ben, sich aus einer solchen Klemme zu befreien, nicht unnatürlich finden“
(Goethe: HA 9, 579 bzw. Goethe: FA, Abt. I, Bd. 14, 630).
246, 30-33 wenn, wie Jedermann weiss, eine hypertrophische Tugend - wie sie
mir der historische Sinn unserer Zeit zu sein scheint - so gut zum Verderben eines
Volkes werden kann wie ein hypertrophisches Laster] Die individualpsychologi-
sche Reflexion aus Goethes Dichtung und Wahrheit (vgl. dazu NK 246, 28-30)
bezieht N. hier mit kulturkritischer Intention auf die Makrosphäre der Gesell-
schaft und verbindet sie dabei zugleich mit seiner Historismus-Diagnose. - Das
aus dem Altgriechischen stammende Fremdwort,hypertrophisch)4 bedeutet in
seinem ursprünglichen Wortsinn: ,überernährt4. In der Biologie und Medizin
wird der Begriff ,Hypertrophie4 gebraucht, um ein übermäßiges Zellwachstum
oder dessen Resultat, nämlich eine übermäßige Vergrößerung von Geweben
und Organen, zu bezeichnen. N. verwendet das Wort hier mit der umfassende-
 
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