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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0439
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Stellenkommentar UB II HL 1, KSA 1, S. 248 413

seinen eigentlichen Sonderstatus gegenüber dem Tier, der ihn schließlich zur
Überwindung der „K e 11 e n - K r a n k h e i t“ befähigt und darüber hinaus im Akt
der Befreiung auch die singuläre Stellung geistesaristokratischer Sonderexis-
tenzen begründen kann. - So heißt es im Text 350 von Menschliches, Allzu-
menschliches II: „Die goldene Loosung. - Dem Menschen sind viele Ket-
ten angelegt worden, damit er es verlerne, sich wie ein Thier zu gebärden: und
wirklich, er ist milder, geistiger, freudiger, besonnener geworden, als alle Thie-
re sind. Nun aber leidet er noch daran, dass er so lange seine Ketten trug, dass
es ihm so lange an reiner Luft und freier Bewegung fehlte: - diese Ketten aber
sind, ich wiederhole es immer und immer wieder, jene schweren und sinnvol-
len Irrthümer der moralischen, der religiösen, der metaphysischen Vorstellun-
gen. Erst wenn auch die Kett en-Krankheit überwunden ist, ist das erste
grosse Ziel ganz erreicht: die Abtrennung des Menschen von den Thieren. -
Nun stehen wir mitten in unserer Arbeit, die Ketten abzunehmen und haben
dabei die höchste Vorsicht nöthig. Nur dem veredelten Menschen darf
die Freiheit des Geistes gegeben werden; ihm allein naht die Erleich-
terung des Lebens und salbt seine Wunden aus; er zuerst darf sagen, dass
er um der Freudigkeit willen lebe und um keines weiteren Zieles willen“
(KSA 2, 702, 2-19). Eine markante Position innerhalb von Menschliches, Allzu-
menschliches hat diese Textpassage im Text 350, weil er den Abschluss des
gesamten Reflexionsweges bildet und mithin wesentliche Aspekte komprimiert
zur Darstellung bringt, die auf das spätere Konzept des ,freien Geistes4 voraus-
weisen. Anschließend folgt nur noch ein kurzer Ausklang (KSA 2, 703-704).
Die Härte der beschriebenen Entwicklung lässt deutliche Affinitäten zur
Genese des ,freien Geistes4 erkennen, zumal von der „Freiheit des Geis-
tes“ ja auch in MA II 350 bereits die Rede ist. Während im vorliegenden Kon-
text von UB II HL 1 die spezifische Differenz zwischen Mensch und Tier im
Vordergrund steht, werden in Jenseits von Gut und Böse anthropologische Bin-
nendifferenzierungen relevant: Denn hier plädiert N. für Strategien, um die
Höherentwicklung der menschlichen Gattung zu fördern - bis zum Rang der
„Philosophen der Zukunft“, für deren Vorläufer er sich und die anderen „freien
Geister“ hält (KSA 5, 60, 22-28). Obwohl N. die Kettenmetapher hier nicht ex-
plizit verwendet, ergeben sich Strukturanalogien zu MA II 350: Denn er be-
trachtet kontinuierlichen „Druck und Zwang“, auch durch den „Stoicismus“,
als notwendig, damit sich der menschliche „Geist [...] in’s Feine und Verwegene
entwickeln“ kann (KSA 5, 61, 29-33). Demnach sieht N. Einschränkungen (wie
etwa die heteronome Situation im Angekettetsein) mit besonderen Freiheits-
chancen verbunden. In dieser Hinsicht hält er „Druck und Zwang“ als Stimu-
lans intellektueller Entwicklung für produktiv und betont daher in Jenseits von
Gut und Böse die konstruktiven Wirkungen einer stoischen Selbstdisziplin.
 
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