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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0450
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424 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

geben, demselben ein mit Krankheiten angefülltes Hospital zeigen, oder ein
Gefängniss, das von Missethätern oder Schuldnern überladen ist, oder ein
Schlachtfeld mit Leichen übersäet, eine untergehende Flotte auf der See, eine
Nation, die unter Tyrannei, Hungersnoth und Pest dahinschmachtet [...]444
(NL 1873, 29 [86], KSA 7, 668).
255,16-18 Diese historischen Menschen glauben, dass der Sinn des Daseins im
Verlaufe eines Prozesses immer mehr ans Licht kommen werde] Zwar zählt
sich N. selbst nur wenig später zu „den Thätigen und Fortschreitenden, als den
Verehrern des Prozesses“ (256, 29-30), aber im 8. Kapitel der Historienschrift
polemisiert er gegen Hegels Interpretation der Weltgeschichte: „Eine solche
Betrachtungsart hat die Deutschen daran gewöhnt, vom ,Weltprozess4 zu re-
den“ (308, 17-18). Im 9. Kapitel wendet er sich dann mit besonderer Ausführ-
lichkeit gegen die Vorstellung vom „Weltprozess“, die Eduard von Hartmann
in seiner Philosophie des Unbewußten häufig exponierte, und zwar im An-
schluss an die Hegelsche Tradition (312, 18 - 318, 29). Vgl. dazu die Kapitel II.2
und II.7 im Überblickskommentar.
256, 2-9 die überhistorischen Menschen [...] kommen [...] zur vollen Einmüthig-
keit des Satzes: das Vergangene und das Gegenwärtige ist Eines und dasselbe,
nämlich in aller Mannichfaltigkeit typisch gleich und als Allgegenwart unver-
gänglicher Typen ein stillstehendes Gebilde von unverändertem Werthe und ewig
gleicher Bedeutung] Mit diesem Konzept des „überhistorischen Menschen“, der
überall das Typische sieht, orientiert sich N. weitgehend an Jacob Burckhardt,
der seinerseits Bezug nahm auf Ernst von Lasaulx, und zwar auf sein Werk
Neuer Versuch einer alten, auf die Wahrheit der Tatsachen gegründeten Philo-
sophie der Geschichte (1856). N. entlieh dieses Buch aus der Basler Universi-
tätsbibliothek. Burckhardt unternahm eine anthropologische Begründung des
historischen Denkens; damit korrespondiert bei N. die Aussage über die „Allge-
genwart unvergänglicher Typen“ (256, 7). Für seine Weltgeschichtlichen Be-
trachtungen notiert Jacob Burckhardt: „Unser Ausgangspunct vom einzigen
bleibenden und für uns möglichen Zentrum, vom Menschen wie er ist und im-
mer war / Wir betrachten das sich Wiederholende, Typische als ein in uns An-
klingendes, Verständliches“ (Burckhardt: Über das Studium der Geschichte.
Der Text der Weltgeschichtlichen Betrachtungen4, 1982, 170). Burckhardt hielt
seine Vorlesung „Über das Studium der Geschichte“ an der Universität Basel
insgesamt dreimal: in den Wintersemestern 1868/69 sowie 1870/71 und 1872/
73, also noch vor der Entstehung von N.s Historienschrift. - N. selbst hörte
diese Vorlesung Burckhardts im Wintersemester 1870/71 als „wöchentlich ein-
stündiges Colleg über das Studium der Geschichte“ (KSB 3, Nr. 107, S. 155).
Laut Walter Kaufmann hat N. in UB II HL so große „Schwierigkeiten mit
dem ,Überhistorischen4“, dass „der ,überhistorische Standpunkt4“ sogar „sein
 
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