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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0458
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432 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

eben sagte, zwischen der unersättlichen optimistischen Erkenntniss und der
tragischen Kunstbedürftigkeit in den höchsten Sphären unserer jetzigen Welt
gekämpft werden“ (KSA 1, 102, 17 - 103, 2). In UB IV WB malt N. dann ein
umfassendes Kampf-Szenario aus (KSA 1, 451, 10-34), das er mit dem Satz ein-
leitet: „Für uns bedeutet Bayreuth die Morgen-Weihe am Tage des Kampfes“
(KSA 1, 451, 10-11).
Wenn gemäß dem obigen Lemma die Geschichte laut N. „vor Allem dem
Thätigen und Mächtigen“ gehört, „der einen grossen Kampf kämpft“, dann er-
gibt sich daraus die Gefahr einer einseitigen Ausrichtung auf eine ,monumen-
talische Historie4. Und dadurch kann eine die Realität verfälschende Retrospek-
tive auf die Vergangenheit entstehen. Denn wenn N. unter den Prämissen
seines elitären Individualismus so nachdrücklich Größe, Tat, Kampf und Hero-
ismus in den Fokus rückt, dann besteht die Gefahr einer verzerrten Perspektive
auf die sozialhistorische Realität der Gesamtbevölkerung, deren Stellenwert im
historischen Prozess infolgedessen aus dem Blick geraten kann. Darüber hi-
naus ergeben sich Risiken durch eine selektiv vorgehende ,Erinnerungspolitik4
ohne ausgewogene Urteilsbasis: Denn eine einseitige Konzentration auf die
vermeintlich heroischen Phasen der eigenen Geschichte führt dazu, dass histo-
rische Erfahrungen von Trauma, Schuld und Trauer zugunsten einer heroi-
schen Nationalgeschichte ausgeblendet werden. Zu problematischen Aspekten
von N.s Historienschrift vgl. das Kapitel II.9 des Überblickskommentars.
258, 16-19 denn unsere Zeit ist so schlecht, sagte Goethe, dass dem Dichter
im umgebenden menschlichen Leben keine brauchbare Natur mehr begegnet] In
Johann Peter Eckermanns Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines
Lebens (Leipzig 1836-1848), die zu N.s bevorzugter Lektüre gehörten, findet
sich am 23. Juli 1827 das folgende Diktum Goethes: „Manzoni ist ein geborener
Poet, so wie Schiller einer war. Doch unsere Zeit ist so schlecht, daß dem Dich-
ter im umgebenden menschlichen Leben keine brauchbare Natur mehr begeg-
net [...]“ (Goethe: FA, Abt. II, Bd. 12, 261).
258,19-21 Mit der Rücksicht auf den Thätigen nennt zum Beispiel Polybius die
politische Historie die rechte Vorbereitung zur Regierung eines Staates und die
vorzüglichste Lehrmeisterin] Der griechische Geschichtsschreiber und Staats-
mann Polybios (ca. 200 - ca. 120 v. Chr.), der nach Rom gekommen war, erlebte
im Umkreis des jüngeren Scipio die Zerstörung von Karthago (146 v. Chr.) und
Korinth. Aufgrund seiner Freundschaft mit Scipio konnte sich Polybios für die
Schonung der griechischen Städte engagieren, die ihm deshalb Ehrendenkmä-
ler errichteten. Sein Hauptwerk umfasst 40 Bücher Universalgeschichte, von
denen etwa ein Drittel erhalten geblieben ist. Hier stellt Polybios die römischen
Eroberungskriege dar, reflektiert zugleich aber auch über die Staatsformen und
 
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