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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0459
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Stellenkommentar UB II HL 2, KSA 1, S. 258 433

die Theorie der Historiographie. Auf die letztere spielt N. mit seiner Aussage
an. Denn Polybios, dessen Werk viele lehrhafte Reflexionen enthält, geht von
der Auffassung aus, die Geschichtsschreibung solle generell durch Belehrung
nützen, wie N. im vorliegenden Kontext erläutert: Als „die vorzüglichste Lehr-
meisterin“ ermahne sie uns, „durch die Erinnerung an die Unfälle Anderer [...],
die Abwechselungen des Glückes standhaft zu ertragen“ (258, 21-23) - eine
Funktion, die übrigens der im Kontext erwähnte Schiller (258, 16) in seinen
Schriften Über das Pathetische und Über das Erhabene in analogem Sinne auf
die Poesie bezieht (FA 8, 449, 837). Über diese generelle Funktion hinaus sieht
Polybios einen spezielleren Nutzen der Historie darin, dass sie eine adäquate
Vorbereitung auf Regierungsgeschäfte ermögliche, weil die Kenntnis der politi-
schen Historie dafür eine nützliche Basis darstelle. In einem nachgelassenen
Notat aus der Entstehungszeit von UB II HL beruft sich N. mit zwei Zitaten auf
Polybios (vgl. NL 1873, 29 [70], KSA 7, 659-660), von denen er allerdings nur
das letztere in den vorliegenden Kontext von UB II HL integrierte (258, 20-23).
Gerade im Vorfeld von N.s Historienschrift - und zugleich synchron zum
Erfolg von Bismarcks ,Realpolitik4 - erschien die vierbändige Polybios-Edition
von Friedrich Hultsch: vgl. Polybii Historiae (ed. Fridericus Hultsch, 4 Bände,
1867-1872). - N. zitiert aus den Historien des Polybios (I, 1, 2) - vgl. auch den
Nachbericht KGWIII5/2, 1575. Das erste der beiden Polybios-Zitate in dem
oben wiedergegebenen nachgelassenen Notat steht N.s eigenem Konzept einer
strategisch fiktionalisierten Historie diametral gegenüber: „Polybios sagt
,gleichwie ein Thier durch den Verlust der Augen durchaus untauglich wird, so
ist die der Wahrheit beraubte Geschichte nichts als eine unnütze Erzählung.4“
(NL 1873, 29 [70], KSA 7, 659.) Im Gegensatz zu den Intentionen, die N. in
UB II HL verfolgt, kritisiert Polybios mit Nachdruck die künstlerische, rhetori-
sche und ,tragisierte4 Historie. Daher übergeht N. im vorliegenden Kontext von
UB II HL auch den berühmten Abschnitt, in dem Polybios in kritischer Ausei-
nandersetzung mit einem anderen Historiker die unzulässige Übertragung der
Tragödiendichtung auf die Historiographie verurteilt: „der Historiker soll seine
Leser nicht durch Schauergeschichten in Erschütterung versetzen [...], nicht
das Geschehen mit Nebenbezügen und Begleitumständen ausschmücken, son-
dern einzig und allein das wirklich Getane und Gesagte berichten“ (vgl. Polybi-
os: Historien, 2, 56, 10-13).
Diesen Prämissen steht N.s eigenes Geschichtskonzept diametral gegen-
über, wenn er in UB II HL eine für die Zwecke des Lebens funktionalisierbare
Geschichtsdeutung propagiert und auch identitätsstiftende Wunschvorstellun-
gen, die der künftigen Kultur nützen sollen, an die Stelle empirischer Fakten
treten lässt. In diesem Sinne empfiehlt er die Fiktion nützlicher Ideale, die von
historischer Erfahrung lediglich inspiriert sind, und meint, im Interesse des
 
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