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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0461
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Stellenkommentar UB II HL 2, KSA 1, S. 258 435

Das für eine adäquate Geschichtsschreibung virulente Spannungsfeld zwi-
schen Faktizität und Fiktionalität bedarf methodisch reflektierter und weiter
differenzierender geschichtstheoretischer Reflexionen. Jörn Rüsen behauptet,
dass sich die „res factae und die res flctae [...] nicht sauber auf die Bereiche:
hie Geschichtsschreibung und da ,schöne4 Literatur aufteilen“ lassen (Rüsen
1982b, 526). Hans Robert Jauß reflektiert die „res flctae als Ärgernis der Histo-
riographie“ (Jauß 1982, 415) und betont: „Das Vorurteil liegt just in der Annah-
me, daß res factae und res flctae trennbar seien wie Stoff und Form, histori-
scher Vorgang und rhetorischer Ornatus - als ob ein historischer, aus Quellen
erhobener Tatbestand rein und objektiv zu gewinnen sei, und daß erst mit ei-
nem zweiten Akt, der Umsetzung des Faktischen in Erzählung, ästhetische Mit-
tel ins Spiel kämen, die der wissenschaftliche Historiker meist schlechten Ge-
wissens gebraucht. Dieses Vorurteil hat die hermeneutische Reflexion mit der
Einsicht aufgelöst, daß die res factae kein Erstes sind, sondern als ergebnishaf-
te Tatsachen schon in den bedeutungsstiftenden Akten ihrer Konstitution ele-
mentare Formen der Anschauung und der Darstellung geschichtlicher Erfah-
rung voraussetzen“, deren „fiktionalen Status“ man eingehend untersuchen
und klären sollte (ebd., 415-416).
258, 23 Abwechselungen des Glückes standhaft zu ertragen] Anspielung auf die
Begriffe ,fortuna‘ und ,Constantia4 in der stoischen Lehre. Der lateinische Be-
griff ,fortuna4 umfasst Glück und Unglück gleichermaßen; ,Constantia4 bedeu-
tet Festigkeit, Beständigkeit, Gleichmut, Charakterstärke, Standhaftigkeit. So er-
klärt Seneca in den Epistulae morales, man solle sich durch die Unbeständigkeit
des Schicksals, seine Ungerechtigkeit und Willkür nicht irritieren lassen (Epist.
9, 12; 18, 6; 78, 29), sondern ,fortuna4 in beiderlei Gestalt verachten, also das
Glück ebenso wie das Unglück: „contemnere utramque fortunam“ (Epist. 71,
37). Vgl. auch Epist. 93, 4 und 76, 21, wo Seneca die Tugend (,virtus4) gerade in
der Geringschätzung („contemptu“) der ,fortuna4 erblickt.
258, 25-26 peinliche Mikrologen auf den Pyramiden grosser Vergangenheiten]
Mit dem pejorativen Begriff ,Mikrologen4 übt N. Kritik an Historikern, die zur
Pedanterie neigen und sich daher mit besonderer Akribie auf Details von eher
peripherer Bedeutung konzentrieren. N. betont die Unangemessenheit eines
solchen Verhaltens durch die Diskrepanz von Mikro- und Makroperspektive,
indem er es hier mit den Relikten „grosser Vergangenheiten“ kontrastiert. Da-
bei greift er auch auf Aspekte der Geschichtskritik Schopenhauers zurück, der
den Begriff „Mikrologien“ verwendet, um empirische Detailkenntnisse der Spe-
zialwissenschaften von dem auf „Grundwahrheiten“ zielenden Fokus des Phi-
losophen abzugrenzen (PP II, Kap. 3, § 34, Hü 52). Mit analoger Tendenz äußert
sich N., wenn er 1873 in einem Nachlass-Notat betont, „die Weisen aller Zeiten“
hätten „unhistorisch gedacht“ (NL 1873, 29 [88], KSA 7, 670).
 
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