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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0462
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436 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Schon in der Welt als Wille und Vorstellung entfaltet Schopenhauer seine
Vorbehalte gegenüber der Geschichte, die seines Erachtens nur Koordination
von Ereignissen bietet, nicht aber systematische Subordination leistet und des-
halb den Status einer Wissenschaft nicht verdient (vgl. WWVI, § 14, Hü 75;
WWV II, Kap. 38, Hü 502). In seinem Spätwerk Parerga und Paralipomena II
bestimmt er den Kontrast zwischen der Philosophie und der Geschichte folgen-
dermaßen: „mehr noch, als jeder Andere, soll der Philosoph [...] stets die
Dinge selbst, die Natur, die Welt, das Leben ins Auge fassen [...], und zwar
sind es ihre großen, deutlichen Züge, ihr Haupt- und Grundcharakter, woraus
sein Problem erwächst. Demnach wird er die wesentlichen und allgemeinen
Erscheinungen, Das, was allezeit und überall ist, zum Gegenstände seiner Be-
trachtung machen, hingegen die speciellen, besonderen, seltenen, mikroskopi-
schen, oder vorüberfliegenden Erscheinungen dem Physiker, dem Zoologen,
dem Historiker u. s. w. überlassen. Ihn beschäftigen wichtigere Dinge: das Gan-
ze und Große der Welt, das Wesentliche derselben, die Grundwahrheiten, sind
sein hohes Ziel. Daher kann er nicht zugleich sich mit Einzelheiten und Mikro-
logien befassen; gleichwie Der, welcher, vom hohen Berggipfel aus, das Land
überschaut, nicht zugleich die da unten im Thale wachsenden Pflanzen unter-
suchen und bestimmen kann, sondern Dies dem dort Botanisirenden überläßt“
(PP II, Kap. 3, § 34, Hü 52).
Mit Schopenhauers Begriff von „Mikrologien“ korrespondiert N.s Vorstel-
lung von „Mikrologen“ im vorliegenden Kontext (258, 25-26). Weitere Zitate,
die Schopenhauers Geschichtskritik exemplifizieren, finden sich in NK 267, 17-
22 und NK 285, 23-26 sowie NK 292, 17-19 und NK 300, 3-9. In UB III SE spielt
der mikrologische Pedant als Wissenschaftler-Typus im Rahmen von N.s Ge-
lehrtensatire eine wesentliche Rolle: N. beschreibt ihn in Schopenhauer als Er-
zieher differenzierter als in UB II HL und betont in diesem Zusammenhang die
„Scharfsichtigkeit in der Nähe, verbunden mit grosser Myopie für die Ferne
und das Allgemeine“: Das „Gesichtsfeld“ des Betroffenen „ist gewöhnlich sehr
klein, und die Augen müssen dicht an den Gegenstand herangehalten werden.
Will der Gelehrte von einem eben durchforschten Punkte zu einem andern, so
rückt er den ganzen Seh-Apparat nach jenem Punkte hin. Er zerlegt ein Bild in
lauter Flecke“; diese „sieht er nie verbunden, sondern er erschliesst nur ihren
Zusammenhang; deshalb hat er von allem Allgemeinen keinen starken Ein-
druck. Er beurtheilt zum Beispiel eine Schrift, weil er sie im Ganzen nicht zu
übersehen vermag, nach einigen Stücken oder Sätzen oder Fehlern“ (KSA 1,
395, 32 - 396, 11). Einen analogen Habitus lassen „Sammler, Erklärer, Verferti-
ger von Indices, Herbarien“ erkennen: Sie „suchen auf einem Gebiete herum,
bloss weil sie niemals daran denken, dass es auch andre Gebiete giebt“ (KSA 1,
397, 19-21). Eine Variante zu diesen beiden Gelehrten-Typen, die N. in seiner
 
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