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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0470
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444 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

In UBII HL führt N. die schon in UBI DS exponierte Opposition von „Gebil-
detheit“ und „Bildung“ fort und betont dabei vor allem die geschichtliche Di-
mension. Wenn er hier die „historische Bildung“ als „eine Art angeborener
Grauhaarigkeit“ bezeichnet (303, 21-23), die durch eine retrospektive Haltung
gekennzeichnet sei, weil man „Trost [...] im Gewesenen“ suche (303, 27), dann
verlagert er die entscheidende Differenzierung allerdings in den Bildungsbe-
griff und variiert insofern seine Terminologie. Denn in diesem Sinne entspricht
die „historische Bildung“ dem, was N. anderenorts als bloße statische „Gebil-
detheit“ von einer lebendig-dynamischen „Bildung“ abgrenzt. Einer vergan-
genheitsorientierten und dadurch zugleich zukunftsfernen Retrospektive auf
die Kulturgeschichte, wie er sie im Zusammenhang mit seiner Historismus-
Diagnose kritisch beleuchtet, hält N. in UB II HL das Potential einer „reichen
und lebensvollen Bildung“ entgegen (307,12-13), die produktive Impul-
se für künftige Entwicklungen zu geben vermag. Vgl auch NK 307, 5-13.
Trotz seiner Skepsis gegenüber philologischer ,Gebildetheit4 zeichnen sich
in N.s Unzeitgemässen Betrachtungen mitunter auch thematische Kontinuitäten
ab, die über Bildungsansprüche der Antike konstituiert werden und mit seiner
Philologen-Existenz vermittelt sind. So grenzt er sich 1872 im zweiten seiner
nachgelassenen Vorträge Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten dezidiert
vom Fortschrittsoptimismus seiner Zeitgenossen ab, wenn er die Überlegenheit
der antiken Erziehung und Bildung im Vergleich mit der Misere der zeitgenössi-
schen Pädagogik und Universitätskultur feststellt. Entschieden kritisiert N. dort
die „lauten Herolde des Bildungsbedürfnisses“; diese sieht er selbst - entgegen
ihrer Programmatik - als „eifrige, ja fanatische Gegner der wahren Bildung“
agieren, die seines Erachtens „an der aristokratischen Natur des Geistes fest-
hält: denn im Grunde“ beabsichtigen sie „die Emancipation der Massen von
der Herrschaft der großen Einzelnen“ und wollen dadurch die Dominanz „des
Genius“ brechen (KSA 1, 698, 8-17). Im fünften seiner nachgelassenen Vorträge
Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten kritisiert N. die Strategie der „Jün-
ger der Jetztzeit4“, den „naturgemäßen philosophischen Trieb durch die soge-
nannte ,historische Bildung4 zu paralysiren“ (KSA 1, 742, 11-14). Diese Argu-
mentationslinie führt N. dann in UB II HL fort, wo er die problematischen
Folgen einer historisierenden Bildungskultur zum Zentralthema avancieren
lässt. Ähnlich wie in UB I DS polemisiert N. auch in den Fünf Vorreden zu fünf
ungeschriebenen Büchern gegen die „Gebildeten“ und die „Philister“
(KSA 1, 779, 34 - 780, 2).
261,1-2 dass die Cultur der Renaissance sich auf den Schultern einer solchen
Hundert-Männer-Schaar heraushob] Noch in der Geburt der Tragödie verstand
N. die Renaissance tendenziell als eine bloße Reinszenierung des antiken Er-
bes - ohne kreative Impulse für die Gegenwart. Hier allerdings steht er offen-
 
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