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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0473
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Stellenkommentar UB II HL 2, KSA 1, S. 261 447

beginnt die Konflikthandlung mit der Schürzung des Knotens und endet mit
der ,Katastrophe4 des Helden. - Terminologisch fixiert ist die Schürzung des
Knotens als dramatisches Strukturelement bereits seit der Definition in der
Poetik des Aristoteles: „Jede Tragödie besteht aus Verknüpfung (öeaiq) und Lö-
sung (Avaic;). Die Verknüpfung umfaßt gewöhnlich die Vorgeschichte und ei-
nen Teil der Bühnenhandlung, die Lösung den Rest. Als Verknüpfung bezeich-
ne ich die Partie vom Anfang bis zu dem Teil, welcher der Wendung ins Glück
oder ins Unglück unmittelbar vorausgeht, als Lösung die Partie vom Anfang
der Wende bis hin zum Schluß“ (Aristoteles: Poetik, Kapitel 18,1455 b 24). Kurz
darauf wählt Aristoteles statt „Verknüpfung“ (öeaiq) den Ausdruck „Knoten“
(nAoKp) (1456 a 9).
Der deus ex machina, den N. in der Geburt der Tragödie im Hinblick auf
Euripides scharf kritisiert (KSA 1, 86, 26-29), kommt nur in einer relativ gerin-
gen Anzahl von Tragödien vor, gehört also keineswegs zu ihren obligatori-
schen Elementen. Als ,Gott aus der (Theater-)Maschine4 greift er plötzlich von
oben her in die Handlung ein, wenn diese selbst keine Lösung mehr zuzulas-
sen scheint, und entwirrt die Konstellation. Ein solcher überraschender Auftritt
eines Gottes (oder einer Göttin) wurde auf der Bühne mithilfe von Maschinen
inszeniert. - Mit „ikonischer Wahrhaftigkeit“ meint N. die genaue Wieder-
holung, also eine authentische Abbildung der Details.
261, 26-32 Bis dahin wird die monumentale Historie jene volle Wahrhaftigkeit
nicht brauchen können: immer wird sie das Ungleiche annähern, verallgemeinern
und endlich gleichsetzen, immer wird sie die Verschiedenheit der Motive und An-
lässe abschwächen, um auf Kosten der causae die effectus monumental,
nämlich vorbildlich und nachahmungswürdig, hinzustellen] In der monumentali-
schen Historie müssen die Ursachen und Anlässe (causae) zugunsten der Wir-
kungen (effectus) zurücktreten, da sich nur aus diesen eine vorbildhafte Größe
konstruieren lässt. Sie orientiert sich gerade nicht am „wahrhaft geschichtli-
che [n] Connexus von Ursachen und Wirkungen“ (262, 5-6). - Verglichen mit
diesem Kriterium der Brauchbarkeit für Inszenierungen von Vorbildlichkeit
kann dem Wahrheitsanspruch allenfalls eine sekundäre Bedeutung zukom-
men. So erklären sich auch die deutlichen Affinitäten zu N.s Problematisierung
des Wahrheitsbegriffs in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne.
Hier wird die Gleichsetzung des Ungleichen zum Tertium comparationis: N.
versteht die Hauptstrategie der Begriffsbildung als ein „Gleichsetzen des Nicht-
Gleichen“ (KSA 1, 880, 2), und zwar durch das „Uebersehen des Individuellen
und Wirklichen“ (KSA 1, 880, 21), also durch Prozesse der Abstraktion und Ver-
allgemeinerung, deren Ergebnis innerhalb einer Sprachgemeinschaft dann zur
verbindlichen Konvention erhoben wird. Im Zusammenhang mit der Arbitrari-
tät der Sprache fungieren die „willkürlichen Abgrenzungen“ und „einseitigen
 
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