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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0487
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Stellenkommentar UB II HL 3, KSA 1, S. 268-269 461

zieht, peinlich inquirirt, und endlich verurtheilt; jede Vergangenheit aber ist werth
verurtheilt zu werden] Hier betont N. entschieden die destruktive Komponente
der ,kritischen Historie4, und zwar auf Kosten konstruktiver Aspekte. Ange-
sichts der Etymologie des aus dem Altgriechischen stammenden Kritik-Begriffs
und seiner philosophiehistorischen Entwicklungsgeschichte ist aber die kom-
plexe, nämlich sowohl positive als auch negative Dimensionen umfassende
Doppelfunktion von ,Kritik4 mitzuberücksichtigen, die auch in den drei ,Kriti-
ken4 Kants dominiert (vgl. die von der Antike bis zur Moderne reichenden Diffe-
renzierungen im philosophiehistorischen Kritik-Artikel von Bormann, Tonelli,
Holzhey 1976, Sp. 1249-1282).
Auf andere Weise, als es die Etymologie des ,Kritik‘-Begriffs nahelegt,
schreibt N. der ,kritischen Historie4 einen positiven Aspekt zu, und zwar da-
durch, dass er sie mit einer strategischen Konstruktion der Vergangenheit zu-
gunsten vitaler Interessen verbunden sieht: im „Versuch, sich gleichsam a
posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im Ge-
gensatz zu der, aus der man stammt44 (270, 21-23). Ein solcher Gegenentwurf
zur Faktizität der eigenen Geschichte entspringt Wunschprojektionen, die jen-
seits realer Gegebenheiten eine neue Identität zugunsten lebenspraktischer
Zwecke schaffen sollen. Dass N. diese Strategie der ,kritischen Historie4 befür-
wortet, zeigt seine anschließende Aussage. Denn „ein gefährlicher Versuch“ ist
sie für ihn nur deshalb, „weil es so schwer ist eine Grenze im Verneinen des
Vergangenen zu finden“ (270, 23-24). Zur Problematik einer strategischen
Funktionalisierung der Geschichte vgl. im Überblickskommentar das Kapitel
II.9, Abschnitt 5: Historische Faktizität oder strategische Geschichtskonstruktion:
Die problematische Fiktionalisierung der Geschichte.
Deutliche Abweichungen von N.s Konzept der ,kritischen Historie4 lassen
Martin Heideggers Reflexionen zu N.s UB II HL erkennen. In seinen Aufzeich-
nungen Zur Auslegung von Nietzsches II. Unzeitgemässer Betrachtung, Vom Nut-
zen und Nachteil der Historie für das Lebert, mit denen Heidegger ein (im Win-
tersemester 1938/39 abgehaltenes) Seminar vorbereitet hat, charakterisiert er -
in einer Affinität zu N.s Formulierung „gefährlicher Versuch“ (270, 23) - die
,kritische Historie4 zwar als „die gefährlichste Art von Historie“ (Heidegger: Ge-
samtausgabe, Bd. 46, 2003, 79), aber zugleich betont er unter Rekurs auf die
altgriechische Etymologie des Begriffs ,Kritik4 seine positiven Aspekte: Laut
Heidegger ist „das Wesen des Richtenden (der Kritik)“ - „wie das alte Kpiveiv -
nicht negativ nur, sondern zuerst und eigentlich Maß und Rang setzend“ (ebd.,
142). Vom antiken Begriff ausgehend, versteht er ,Kritik4 in diesem Sinne zu-
nächst neutral als ein Unterscheiden und Beurteilen. Daraus resultiert für Hei-
degger auch die Sonderstellung der ,kritischen Historie4 in N.s UB II HL, die er
so charakterisiert: „Die kritische Historie ist philosophische Besinnung“ (ebd.,
 
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