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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0489
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Stellenkommentar UB II HL 3, KSA 1, S. 269 463

Rechts“ als das „faktisch in der Natur herrschende Gesetz“, und zwar „auch
in der Menschenwelt“ (Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik, Hü 159).
Seines Erachtens „sind wir Alle zur Ungerechtigkeit und Gewalt geneigt“ (ebd.,
Hü 213). Eine Rechtfertigung der Ungerechtigkeit als Lebensprinzip lässt sich
außer in UB II HL auch in UB III SE feststellen. Dort erklärt N. in seiner Charak-
terisierung des ,Schopenhauerschen Menschen4 ausdrücklich: „er wird, bei
dem menschlichen Maasse seiner Einsicht, ungerecht sein müssen, bei allem
Streben nach Gerechtigkeit“ (372, 34 - 373, 2).
Indem N. das Leben im vorliegenden Kontext von UB II HL als „unersätt-
lich sich selbst begehrende Macht“ beschreibt, greift er affirmativ auf zentrale
Konzeptionen von Schopenhauers Willensmetaphysik zurück. Dort finden sich
vielfältige Belege für die von ihm metaphysisch begründete Überzeugung vom
Leiden jedes Lebewesens als existentieller Notwendigkeit. In seinem Haupt-
werk Die Welt als Wille und Vorstellung begründet Schopenhauer diesen Zusam-
menhang auch mithilfe drastischer Metaphorik, indem er erklärt, „daß der Wil-
le an sich selber zehren muß, weil außer ihm nichts daist und er ein hungriger
Wille ist. Daher die Jagd, die Angst und das Leiden“ (WWVI, § 28, Hü 183).
Analog: WWV I, § 27, Hü 175. Vgl. dazu ausführlicher NK 249, 27-29. - Die
Gleichsetzung von „Leben“ und „Macht“ im vorliegenden Kontext von UB II HL
weist bereits auf die späteren Konzepte N.s zum ,Willen zur Macht4 voraus.
Auch seine Vorstellung, das Leben sei eine „dunkle, treibende [...] Macht“, ba-
siert auf zentralen Aspekten der Willensphilosophie Schopenhauers: Er ver-
steht unter dem ,Willen4 keineswegs primär die voluntative Dimension des
menschlichen Bewusstseins im Sinne einer intentionalen Rationalität, sondern
stattdessen eine alles Seiende in der Welt durchwirkende Triebdimension, die
über den Bereich des Organischen hinaus sogar das Anorganische mit umfasst.
Laut Schopenhauer manifestiert sich der Wille auf den niedrigeren Stufen sei-
ner Objektivation als dunkler Drang, entwickelt im Tierreich immerhin schon
das Potential einer „anschaulichen Erkenntniß“, die aber nur beim Menschen
auch von der Fähigkeit zur „Reflexion“ durch „die Vernunft als das Vermögen
abstrakter Begriffe“ begleitet wird (WWV I, § 27, Hü 180). In diesem Sinne stellt
Schopenhauer die verschiedenen Ebenen der Willensobjektivationen folgen-
dermaßen dar: „Von Stufe zu Stufe sich deutlicher objektivirend“, wirkt „im
Pflanzenreich [...] der Wille doch noch völlig erkenntnißlos, als finstere trei-
bende Kraft, und so endlich auch noch im vegetativen Theil der thierischen
Erscheinung“ (WWV I, § 27, Hü 178). Allerdings gilt bereits für die animalische
Sphäre: „Die Welt zeigt jetzt die zweite Seite. Bisher bloß Wille, ist sie nun
zugleich Vorstellung, Objekt des erkennenden Subjekts. Der Wille, der bis
hieher im Dunkeln, höchst sicher und unfehlbar, seinen Trieb verfolgte, hat
sich auf dieser Stufe ein Licht angezündet, als ein Mittel, welches nothwendig
wurde [...]“ (WWV I, § 27, Hü 179).
 
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