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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0495
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Stellenkommentar UB II HL 4, KSA 1, S. 273-274 469

Schon von den Zeitgenossen selbst wurde der Stilpluralismus in der Kunst
des 19. Jahrhunderts als problematisch bewertet, weil er Desorientierung ent-
stehen ließ und genuine Kreativität erschwerte. In seinem Essay Betrachtung
über den Zustand der jetzigen Malerei klagt Friedrich Theodor Vischer bereits
1842: „Reflektierend und wählend steht jetzt der Künstler über allen Stoffen,
die jemals vorhanden waren, und sieht den Wald vor Bäumen nicht“ (Vischer:
Kritische Gänge, Bd. 5,1922, 37). Weil durch den Stilpluralismus in dieser hete-
rogenen Epoche schon eine unüberschaubare Fülle kultureller Muster zur Ver-
fügung stand, tendierten viele Künstler angesichts der besonderen Herausfor-
derung, die Tradition durch eigene Leistungen auf kreative Weise fortzuführen,
zu einer eher resignativen Haltung. Mitunter praktizierten sie einen Eklektizis-
mus und beschränkten sich auf bloße Imitation des bereits Vorhandenen. Diese
spezifisch ästhetische Problematik ist im weiteren Horizont des Historismus
situiert. Sie erscheint als symptomatisch für die kulturelle Konstellation seit
dem Ende der klassisch-romantischen Epoche. Die Identitätsproblematik und
Legitimationskrise, die bei Intellektuellen und Künstlern durch das resignative
Bewusstsein der Epigonalität ausgelöst wurde, leistete zugleich auch einem
forcierten Klassikerkult Vorschub und veränderte das Verhältnis zur Tradition
fundamental. Zum Gesamtkomplex dieser durch den Historismus bedingten
Krisensituation vgl. Grätz 2006, 11-87. Zur Epochen-Problematik der Epigonali-
tät und ihren Folgen für das künstlerische Selbstverständnis vgl. NK 295, 4-7
und NK 306, 13-19.
Der von N. entfaltete Gedanke, durch Überfüllung mit „fremden Zeiten“
und Kulturen würden die modernen Menschen „zu wandelnden Encyclopädi-
en, als welche uns vielleicht ein in unsere Zeit verschlagener Alt-Hellene an-
sprechen würde“, basiert auf einem imaginären Epochensprung von der Antike
zur Moderne, der in Robert Musils anthropologischem ,Theorem der Gestaltlo-
sigkeit4 weiterwirkt. Ähnlich wie N. veranschaulicht auch Musil abstrakte Zu-
sammenhänge durch konkrete Beispiele, die kulturelle Grenzen imaginativ
überspringen und dabei sogar den Hiat zwischen Antike und Moderne trans-
zendieren. So behauptet Musil in seinem Essay Das hilflose Europa oder Reise
vom Hundertsten ins Tausendste: „Es gehört gar nicht so viel dazu, um aus dem
[...] antiken Griechen den modernen Zivilisationsmenschen zu machen“ (Musil
1978, Bd. II, 1081). Über diese markante Analogie hinaus sind auch in den an-
thropologischen Prämissen von N. und Musil Übereinstimmungen festzustellen.
So korrespondieren Belege in essayistischen Texten der 1920er Jahre, in denen
Musil das ,Wesen‘ des Menschen als ungestaltet, gestaltlos, plastisch, labil,
liquide, bildsam und formbar beschreibt (vgl. ebd., 1072, 1080, 1081, 1348,
1368-1375), beispielsweise mit dem nachgelassenen Notat von N.: „Der Mensch
ist etwas Flüssiges und Bildsames - man kann aus ihm machen, was man will“
 
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