Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0496
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
470 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

(NL 1883,15 [9], KSA 10, 481). Zu Musils Anthropologie der Gestaltlosigkeit vgl.
Neymeyr 2009c, 129-169. Vgl. auch die Musil-Passage in Kapitel II.8 zur Rezep-
tion von UB II HL. In seinem Essay Das hilflose Europa oder Reise vom Hun-
dertsten ins Tausendste charakterisiert Musil den Menschen als plastisches
„Wesen [...] ebensoleicht fähig der Menschenfresserei wie der Kritik der reinen
Vernunft“ (Musil 1978, Bd. II, 1081). Und in seinem essayistischen Fragment
Der deutsche Mensch als Symptom erklärt er: „Ich will behaupten, daß ein
Menschenfresser, als Säugling in europäische Umgebung eingepflanzt, wahr-
scheinlich ein guter Europäer würde [...]. Ich glaube das gleiche von einem
hellenischen Säugling des 4. Jhrdts. v. Chr., den ein Wunder im Jahre 1923 einer
Kindsmutter am Kurfürstendamm untergeschoben hätte oder von einem jun-
gen Engländer der einer ägyptischen Mutter vom Jahr 5000 geschenkt würde“
(Musil 1978, Bd. II, 1372).
274, 18-19 die „schwache Persönlichkeit“] Die von N. in Anführungszeichen
gesetzte Formulierung findet sich beispielsweise in Hegels Encyklopädie der
philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Dritter Theil (Hegel: Werke,
Bd. 7, 2. Abtheilung, 1845, 246). In N.s persönlicher Bibliothek befand sich eine
von Karl Rosenkranz mit Einleitung und Erläuterungen versehene Ausgabe
(Berlin 1870, NPB 281). - In einem nachgelassenen Notat weist N. ausdrücklich
auf Grillparzer hin, der den Ausdruck „schwache Persönlichkeit“ ebenfalls ver-
wendet: „Grillparzer: ,Der Grundfehler des deutschen Denkens und Stre-
bens liegt in einer schwachen Persönlichkeit, zufolge dessen das Wirk-
liche, das Bestehende nur einen geringen Eindruck auf den Deutschen macht“
(NL 1873, 29 [68], KSA 7, 659). Vgl. auch NK 285, 19.
274, 26-34 Die Cultur eines Volkes als der Gegensatz jener Barbarei ist einmal,
wie ich meine, mit einigem Rechte, als Einheit des künstlerischen Stiles in allen
Lebensäusserungen eines Volkes bezeichnet worden; diese Bezeichnung darf
nicht dahin missverstanden werden, als ob es sich um den Gegensatz von Barba-
rei und schönem Stile handele; das Volk, dem man eine Cultur zuspricht, soll
nur in aller Wirklichkeit etwas lebendig Eines sein und nicht so elend in Inneres
und Aeusseres, in Inhalt und Form auseinanderfallen.] Hier greift N. auf die Defi-
nition des Kulturbegriffs in UB I DS zurück. Dass es sich um ein implizites
Selbstzitat N.s handelt, zeigt die Parallelstelle in UB I DS: „Kultur ist vor allem
Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes“
(KSA 1, 163, 3-4). Diese Auffassung ist als Reflex der zeitgenössischen Ausei-
nandersetzung zwischen Vertretern der Gehaltsästhetik und der Formalästhe-
tik zu verstehen. In spezifischerem Sinne basiert sie auf der Opposition zwi-
schen Wagner, dem Repräsentanten der Gehaltsästhetik, und Eduard Hanslick,
dem damals führenden Musikkritiker, der zugleich als ein Hauptvertreter der
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften