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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0497
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Stellenkommentar UB II HL 4, KSA 1, S. 274-275 471

Formalästhetik gilt. Indem N. von „schönem Stile“ spricht, spielt er auf Hans-
licks Schrift Vom Musikalisch-Schönen an. Vgl. dazu auch den Brief Erwin Roh-
des vom 28. Mai 1871 an N. (KGB II2, Nr. 188, S. 377). Zu diesem thematischen
Komplex vgl. auch NK 1/1 zur Geburt der Tragödie (KSA 1,127, 22-27). - Hervor-
zuheben ist die Differenz zwischen N.s Einheitsprogrammatik und modernen
kulturwissenschaftlichen Konzepten, die auch die dialektischen Vermittlungen
zwischen Eigenem und Fremdem in der Kultur als einem heterogenen Span-
nungsgefüge reflektieren. Vgl. auch NK TJ1, 29.
275, 2-3 Vernichtung der modernen Gebildetheit zu Gunsten einer wahren Bil-
dung] In seinen Frühschriften, insbesondere in den Unzeitgemässen Betrach-
tungen, zieht N. wiederholt einer statischen, äußerlich bleibenden Gebildet-
heit4 die dynamische Zukunftsorientierung genuiner ,Bildung4 vor. Mit dieser
Präferenz schließt N. an Auffassungen Richard Wagners an, der in seiner
Schrift Über das Dirigiren bereits 1869 die „nichtige Gebildetheit44 mit der „wah-
ren Bildung“ kontrastiert (vgl. GSD VIII, 313-315). Diese Gegenüberstellung
steht im Kontext von Wagners Polemik gegen den Komponisten und Dirigenten
Felix Mendelssohn Bartholdy und gegen den Musikkritiker Eduard Hanslick,
der eine kritische Einstellung zur Musik Wagners hatte. Wagner behauptet auf-
grund seiner antisemitischen Ressentiments einen „Unmuth“ der „deutschen
Musiker“ angesichts einer Situation, in der „diese nichtige Gebildetheit sich
auch ein Urtheil über den Geist und die Bedeutung unserer herrlichen Musik
anmaaßen will“ (vgl. GSD VIII, 313-315). Vgl. dazu ausführlicher NK 334, 9-14
und NK 450, 8-13. - Eine nationale Akzentsetzung verbindet N. mit der Opposi-
tion zwischen „Gebildetheit“ und „Bildung“, wenn er in UB I DS erklärt: „Sollte
es möglich sein, jene gleichmüthige und zähe Tapferkeit, welche der Deutsche
dem pathetischen und plötzlichen Ungestüm des Franzosen entgegenstellte,
gegen den inneren Feind, gegen jene höchst zweideutige und jedenfalls unna-
tionale Gebildetheit4 wachzurufen, die jetzt in Deutschland, mit gefährlichem
Missverstände, Kultur genannt wird: so ist nicht alle Hoffnung auf eine wirk-
liche ächte deutsche Bildung, den Gegensatz jener Gebildetheit, verloren“
(KSA 1, 160, 30 - 161, 3). - Zu den Korrelationen zwischen Gebildetheit4, ,Bil-
dung4 und ,Kultur4 im Frühwerk N.s vgl. vor allem NK 161, 2-3, aber auch
NK 307, 5-13 und NK 334, 9-14.
Wenn N. das Defizitäre bloßer „Gebildetheit“ mit seiner „Hoffnung auf eine
wirkliche ächte [sic] deutsche Bildung“ kontrastiert (KSA 1, 161, 2-3), ist schon
die grammatische Struktur signifikant: Mit dem vom Partizip Perfekt Passiv
abgeleiteten Substantiv Gebildetheit4 betont N. das statische Resultat eines ab-
geschlossenen Vorgangs und schafft dadurch einen Gegensatz zum Begriff Bil-
dung4, den er tendenziell prozessual im Sinne einer lebendigen, zukunftsoffe-
nen Dynamik versteht. Ein solches Konzept genuiner ,Bildung4 unterscheidet
 
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