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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0498
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472 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

sich grundlegend von der Mentalität gebildeter4, die ihr Bildungsgut als stabi-
len, stets verfügbaren Besitz begreifen. So diagnostiziert N. an den gebildeten4
einen Habitus selbstzufriedener Philistrosität, wie er ihn in UB I DS konkret an
David Friedrich Strauß kritisiert. Für die geistige Stagnation der Bildungsphi-
lister ist es laut N. charakteristisch, dass sie „nichts Wesentliches an dem
gegenwärtigen Stande der deutschen Gebildetheit geändert haben44 wollen
(KSA 1, 205, 11-17) und von der „Singularität der deutschen Bildungsinstitutio-
nen, namentlich der Gymnasien und Universitäten, überzeugt“ sind (KSA 1,
205,18-20). Zudem glauben sie in illusionärer Selbstüberschätzung, durch die-
se Institutionen zum „gebildetste[n] und urtheilsfähigste[n] Volk der Welt“ ge-
worden zu sein (KSA 1, 205, 22).
Zur Borniertheit der „gelehrten Stände“ (KSA 1, 162, 4) gehört es nach N.s
Überzeugung, dass sie die „Sorge um die allgemeine deutsche Bildung“ nicht
verstehen, weil sie „mit dem höchsten Grade von Sicherheit überzeugt [sind],
dass ihre eigene Bildung die reifste und schönste Frucht der Zeit, ja aller Zeiten
sei“ (KSA 1, 162, 7-10). Zum Begriff ,Bildungsphilister4, den N. sowohl in
UB I DS (KSA 1, 165, 6, 10) als auch in UB III SE (KSA 1, 352, 27; 401, 24-25)
gebraucht, vgl. NK 165, 6 sowie NK 352, TI und NK 401, 24-25. - Im Unterschied
zur rückwärts gewandten, statischen ,Gebildetheit4 philiströser Geister, vor al-
lem der ,Bildungsphilister4, schließt echte ,Bildung4 nach N.s Auffassung eine
über den Status quo hinausweisende geistige Flexibilität ein, die zukunftsori-
entiert ist - anders als die nostalgische Retrospektive der gebildeten4 auf die
Kulturgeschichte. Den kreativen Geistesheroen früherer Epochen der deut-
schen Kultur, die N. „als Suchende“ charakterisiert (KSA 1, 167, 30), stellt er
die , Philister4 seiner Gegenwart mit ihrer leeren Bildungsprätention gegenüber,
die solche „grossen heroischen Gestalten“ (KSA 1,167,12) „als Findende“ miss-
verstehen (KSA 1, 167, 29) und durch sie einen fixierten Bildungsbesitz zur all-
gemeinen , Erbauung4 repräsentiert sehen, durch den sich weitere Suchanstren-
gungen erübrigen (vgl. KSA 1, 168, 1-17).
Die schon in UB I DS entfaltete Kritik am Habitus der Gelehrten, die den
Wert ihrer ,Gebildetheit4 erheblich überschätzen, steigert N. in UB III SE bis
zur Gelehrtensatire (vgl. KSA 1, 394, 20 - 400, 8). Hier betont er zugleich den
Antagonismus zwischen dem sterilen ,Gelehrten4 und dem kreativen ,Genius4
(vgl. KSA 1, 399, 31 - 400, 8), den er durch seinen eigenen ,Erzieher4 Schopen-
hauer idealtypisch verkörpert sieht. In UB III SE reflektiert N. auch den Bedeu-
tungsverlust der „gelehrten Stände“, die in der modernen Zivilisation ihren
Stellenwert als „Leuchtthürme oder Asyle“ (KSA 1, 366, 14-15) eingebüßt ha-
ben und damit auch ihre wichtige Orientierungsfunktion im Rahmen kritisch-
konstruktiver Zeitdiagnosen: „Alles dient der kommenden Barbarei, die jetzige
Kunst und Wissenschaft mit einbegriffen. Der Gebildete ist zum grössten Fein-
 
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