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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0513
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Stellenkommentar UB II HL 6, KSA 1, S. 285 487

die Dinge in einem solchermassen gestimmten Menschen zeigen, das wahre Wesen der
Dinge offenbare. Oder meint man, dass in jenem Zustande die Dinge sich förmlich abpho-
tographiren, meint man, es sei ein rein passiver Zustand? Im Gegentheil: es ist die
eigentliche Zeugungszeit des Kunstwerks, ein Compositionsmoment allerhöchster Art: der
Einzelwille schläft dabei. Das Gemälde ist künstlerisch wahr, gewiss noch nicht his-
torisch; es sind die facta nicht, sondern deren Gewebe und Zusammenhang, der hier hin-
zugedichtet ist und der zufällig wahr sein kann: ist er aber falsch, immer noch ,objectiv‘.
Objectiv Geschichte denken ist die stille Arbeit des Dramatikers: alles an einander
denken, alles Vereinzelte zum Ganzen zu weben: überall mit der künstlerischen Voraus-
setzung, dass der Plan, der Zusammenhang darin sei: eine Voraussetzung, die gar nicht
empirisch-historisch ist und aller ,Objectivität‘, wie man sie gewöhnlich versteht, wider-
streitet. Dass der Mensch die Vergangenheit überspinnt und bändigt, ist Kunsttrieb: nicht
Wahrheitstrieb. Die vollkommene Form einer solchen Geschichtsschreibung ist rein Kunst-
werk: ohne einen Funken der gemeinen Wahrheit.
Ist es erlaubt, dass alles kün[s]tlerisch betrachtet werde? Für das Vergangne
wünsche ich vor allem die moralische Abschätzung. Also eine bedenkliche Verwechs-
lung des Künstlerischen und des Moralischen: wodurch das Moralische abgeschwächt
wird.
Nun aber ist meistens jene Objectivität nur eine Phrase, weil die künstlerische
Potenz fehlt. An Stelle jener künstlerischen Ruhe tritt die schauspielerische Affec-
tation der Ruhe: der Mangel an Pathos und moralischer Kraft kleidet sich als überlegne
Kälte der Betrachtung. In gemeineren Fälle<n> tritt die Banalität, und Allerweltsweisheit,
die allerdings gar nichts Aufregendes hat, an Stelle der künstlerischen Interesselosigkeit.
Alles Nichtaufregende wird gesucht -
Wo nun gerade das Höchste und Seltenste behandelt wird, da ist die gemeine und
flache Motivation empörend, wenn sie aus der Eitelkeit des Historikers herstammt.
(Swift: .jeder Mann hat gerade soviel Eitelkeit, als es ihm am Verstände mangelt.“)
Soll der Richter kühl sein? Nein: er soll nicht parteiisch sein, nicht Nutzen und Scha-
den für sich im Auge haben. Vor allem muss er wirklich über den Parteien stehen. Ich
sehe nicht ein, weshalb ein Spätgeborner schon deshalb Richter aller früher Gehörnen
sein solle. Die meisten Historiker stehen unter ihren Objecten!
Man nimmt jetzt an: der, den ein Moment der Vergangenheit gar nichts angeht,
sei berufen ihn darzustellen: Philologen und Griechen verhalten sich meistens so zu ei-
nander: sie gehen sich nichts an. Das nennt man auch .Objectivität“: selbst zum Photogra-
phiren gehört, äusser Object und Platte, das Licht: doch meint man, es genüge Object
und Platte. An strahlendem Sonnenlicht fehlt es: im besten Falle glaubt man, dass das
Oellicht der Studirstube genüge.
Ganz unbesonnene Menschen glauben überhaupt dass sie und ihre Zeit, in allen
Popularansichten, Recht habe<n>: wie jede Religion es von sich glaubt. Sie nennen .Ob-
jectivität“ das Messen vergangner Meinungen an den Allerweltsmeinungen, in denen
sie den Canon aller Wahrheiten suchen. Übersetzung der Vergangenheit in die Trivialität
der Gegenwart ist ihre Arbeit. Feindselig sind sie gegen jede Geschichtsschreibung, die
diese Popularmeinungen nicht für kanonisch hält: das soll .subjectiv“ sein!“

285, 23-26 Frage, ob er ein Recht dazu hat, sich seiner bekannten historischen
„Objectivität“ wegen stark, nämlich gerecht und in höherem Grade gerecht zu
nennen als der Mensch anderer Zeiten] Diese problematische Koinzidenz von
 
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