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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0514
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488 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Stärke und Gerechtigkeit („stark, nämlich gerecht“) leitet zu einer größeren
Partie über, in der N. zuerst über die ,Wahrheit4 als Voraussetzung einer voll-
ständigen Gerechtigkeit4 reflektiert, um diese Hypothese dann in Zweifel zu
ziehen und damit zugleich die Möglichkeit von ,Objektivität4 zu unterminie-
ren. - Bereits in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne proble-
matisiert N. den Anspruch auf Objektivität aus erkenntnistheoretischer und
sprachkritischer Perspektive, weil es „zwischen zwei absolut verschiedenen
Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt“ seiner Auffassung zufolge „keine
Causalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ä s t h e -
tisches Verhalten“, mithin „eine andeutende Uebertragung, eine nachstam-
melnde Uebersetzung in eine ganz fremde Sprache“ gibt (KSA 1, 884, 9-14).
Zur Geschichtskritik Schopenhauers gehört auch die Infragestellung einer
angeblichen ,Objektivität4 der Geschichte. In der Welt als Wille und Vorstellung
erklärt er, „die Geschichte“ habe es stets nur „mit dem schlechthin Einzelnen
und Individuellen zu thun“, das „unerschöpflich ist“; daher wisse „sie Alles
nur unvollkommen und halb“ (WWVII, Kap. 38, Hü 502). - Den möglichen
Einwand, durch die Differenzierung in verschiedene „Zeitperioden“ gebe es
„auch in der Geschichte Unterordnung des Besondern unter das Allgemeine“,
pariert Schopenhauer, indem er erklärt, der Begriff des Allgemeinen sei in die-
ser These falsch verwendet: „Denn das hier angeführte Allgemeine in der Ge-
schichte ist bloß ein subjektives, d. h. ein solches, dessen Allgemeinheit
allein aus der Unzulänglichkeit der individuellen K e n n t n i ß von den Dingen
entspringt, nicht aber ein objektives, d.h. ein Begriff, in welchem die Dinge
wirklich schon mitgedacht wären. Selbst das Allgemeinste in der Geschichte
ist an sich selbst doch nur ein Einzelnes und Individuelles, nämlich ein langer
Zeitabschnitt, oder eine Hauptbegebenheit: zu diesem verhält sich daher das
Besondere, wie der Theil zum Ganzen, nicht aber wie der Fall zur Regel“
(WWV II, Kap. 38, Hü 503).
Auf Hegels Geschichtsphilosophie anspielend, schreibt Schopenhauer:
„Bloß daß Manche die Geschichte zu einem Theil der Philosophie, ja zu dieser
selbst machen wollen, indem sie wähnen, sie könne die Stelle derselben ein-
nehmen, ist lächerlich und abgeschmackt“ (PP II, Kap. 19, § 233, Hü 474). -
Das Defizitäre einer lediglich historischen Betrachtung im Gegensatz zum phi-
losophischen Wahrheitsanspruch behauptet Schopenhauer mit dem polemi-
schen Vergleich, „daß die Geschichtsmuse Klio mit der Lüge so durch und
durch inficirt ist, wie eine Gassenhure mit der Syphilis. Die neuere kritische
Geschichtsforschung müht sich zwar ab, sie zu kuriren, bewältigt aber mit ih-
ren lokalen Mitteln bloß einzelne, hie und da ausbrechende Symptome; wobei
noch dazu manche Quacksalberei mit unter läuft, die das Uebel verschlim-
mert“ (PP II, Kap. 19, § 233, Hü 476).
 
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