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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0515
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Stellenkommentar UB II HL 6, KSA 1, S. 285-286 489

Mit seiner Kritik am Historiker orientiert sich N. an Schopenhauers Ideal
des ,Selbstdenkers4 und an seinen Vorbehalten gegenüber der Geschichte.
Schopenhauer vertritt die Auffassung, dass die Geschichte im Unterschied zur
Philosophie einen unmittelbaren Zugang zur Essenz der Welt und des Lebens
verstelle. In seiner Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie betont er: „[...] Zu-
dem hat das Lesen der selbsteigenen Werke wirklicher Philosophen jedenfalls
einen wohlthätigen und fördernden Einfluß auf den Geist, indem es ihn in
unmittelbare Gemeinschaft mit so einem selbstdenkenden und überlegenen
Kopfe setzt, statt daß bei jenen Geschichten der Philosophie er immer nur die
Bewegung erhält, die ihm der hölzerne Gedankengang so eines Alltagskopfs
ertheilen kann, der sich die Sachen auf seine Weise zurechtgelegt hat“ (PP I,
Hü 208). - Allerdings hebt N. - im Unterschied zu Schopenhauer - in UB IIISE
eine wesentliche Korrelation zwischen historischer und philosophischer Er-
kenntnis hervor: „Wenn die Beschäftigung mit Geschichte vergangener oder
fremder Völker werthvoll ist, so ist sie es am meisten für den Philosophen, der
ein gerechtes Urtheil über das gesammte Menschenloos abgeben will“ (KSA 1,
361, 2-5). - Zu den wesentlichen Aspekten von Schopenhauers Geschichtskri-
tik vgl. auch NK 258, 25-26 und NK 267, 17-22 sowie NK 292, 17-19 und NK 300,
3-9.
286, 13-14 Die Hand des Gerechten, der Gericht zu halten befugt ist, erzittert
nicht mehr, wenn sie die Wage hält] Schon in der Geburt der Tragödie entwirft
N. Gerichtsszenarien (vgl. NK zu KSA 1, 128, 5-7). Wiederholt - so auch hier -
wählt er ein eschatologisches Pathos, das an die Bibel erinnert (vgl. dazu
NK 304, 10-13), insbesondere an das Jüngste Gericht. Den idealen Richter situ-
iert N. wie den richtenden und strafenden Gott in einer „einsame[n] Höhe“ und
bezeichnet ihn „als das ehrwürdigste Exemplar der Gattung Mensch; denn
Wahrheit will er, doch nicht nur als kalte folgenlose Erkenntniss, sondern als
die ordnende und strafende Richterin, Wahrheit nicht als egoistischen Besitz
des Einzelnen, sondern als die heilige Berechtigung, alle Grenzsteine egoisti-
scher Besitzthümer zu verrücken, Wahrheit mit einem Worte als Weltgericht“
(286, 29 - 287, 1).
In einem Nachlass-Notat von 1873 allerdings relativiert N. die Retrospekti-
ve des über die Vergangenheit richtenden Historikers folgendermaßen: „Soll
der Richter kühl sein? Nein: er soll nicht parteiisch sein, nicht Nutzen und
Schaden für sich im Auge haben. Vor allem muss er wirklich über den Parteien
stehen. Ich sehe nicht ein, weshalb ein Spätgeborner schon deshalb Richter
aller früher Gebornen sein solle. Die meisten Historiker stehen unter ihren
Objecten!“ (NL 1873, 29 [96], KSA 7, 675). Im Vorspann des Kommentars zu Ka-
pitel 6 von UB II HL (also direkt vor NK 285, 23-26) wird diese aufschlussreiche
Textpassage (NL 1873, 29 [96], KSA 7, 673-675) komplett zitiert. - Zum kultur-
 
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