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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0518
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492 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

terial, als Kunst hingegen gestalte sie das Gefundene und stelle es dar. Den-
noch erscheint die Differenz zwischen Rankes Geschichtsverständnis und N.s
programmatischem Postulat einer fiktionalisierenden Überformung der Histo-
rie gravierend, weil die Fakten dabei nicht lediglich für die Vermittlung aufbe-
reitet werden, sondern (gemäß N.s Konzept der monumentalischen und der
kritischen Historie) darüber hinaus auch strategisch selektiert sowie durch
Konstruktion und Transformation zugunsten außerhistorischer Interessen ver-
einnahmt werden sollen. Zu Rankes Geschichtsverständnis und Wissenschafts-
methodik vgl. Vierhaus, 1977, 63-76.
288,15-17 er ist zum nachtönenden Passivum geworden, das durch sein Ertönen
wieder auf andere derartige Passiva wirkt] Diese von N. kritisch akzentuierte
Aussage über „den historischen Virtuosen der Gegenwart“ (288,10) korrespon-
diert tendenziell mit einer Selbstcharakterisierung Rankes. In der Vorrede zum
5. Buch seiner Englischen Geschichte beschreibt Ranke sein Selbstverständnis
als Historiker, der sich dem Objektivitätsideal verpflichtet fühlt, folgenderma-
ßen: „Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen und nur die Dinge
reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen“ (zitiert nach Vierhaus 1977,
63).
288, 30-31 diese Tugend hat nie etwas Gefälliges, kennt keine reizenden Wal-
lungen, ist hart und schrecklich] Assoziativ liegt hier eine Reminiszenz an Maxi-
milien Robespierre (1758-1794) nahe, der während seiner Revolutionsherr-
schaft die von ihm proklamierte ,Tugend4 (vertu), eine Depravation des
stoischen Tugendideals, mithilfe von ,Terror4 (terreur) gewaltsam durchzuset-
zen versuchte.
290,1-2 jenes ästhetische Phänomen, jenes Losgebundensein vom persönlichen
Interesse] Implizit nimmt N. hier auf zentrale Charakteristika der Ästhetik
Kants und Schopenhauers Bezug. Schopenhauer greift auf Kants Vorstellung
einer interesselosen Anschauung zurück, um sie im Konzept einer willenlosen
Kontemplation zu radikalisieren (vgl. Neymeyr 1996a, 215-263). - In seiner Kri-
tik der Urtheilskraft (§ 5) sieht Kant das ästhetische Geschmacksurteil mit einem
„Wohlgefallen oder Mißfallen ohne alles Interesse“ verbunden (AA 5,
211). Vom Wohlgefallen am Angenehmen, Guten und Schönen (ebd., 209) hat
letzteres für Kant insofern einen Sonderstatus, als es „einzig und allein ein
uninteressirtes und freies Wohlgefallen“ ist, „denn kein Interesse, weder das
der Sinne, noch das der Vernunft, zwingt den Beifall ab“ (ebd., 210).
In der Welt als Wille und Vorstellung I vertritt Schopenhauer die These, der
normalerweise in den Dienst des Willens gestellte Intellekt könne sich aus-
nahmsweise von dieser Funktion lösen und vorübergehend Autonomie erlan-
gen: Dieser „Uebergang von der gemeinen Erkenntniß einzelner Dinge zur Er-
 
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