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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0522
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i&6 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

sich auch seine Begebenheiten selbst erfinden, wenn er anders dazu Lust hat“
(Grillparzer: Sämmtliche Werke, Bd. 9, 1872, 129). - Anschließend rekurriert
N. auf eine Partie in Grillparzers Schrift Ueber den Nutzen des Studiums der
Geschichte; hier erklärt Grillparzer: „Ich zweifle nicht, daß in den menschli-
chen Dingen, also auch in der Geschichte, eben so gut eine Nothwendigkeit
ist, als in den Naturdingen. Aber jeder Mensch hat zugleich seine Separat-
Nothwendigkeit, so daß Millionen Richtungen parallel, in krummen und gera-
den Linien nebeneinander laufen, sich durchkreuzen, fördern, hemmen, vor-
und rückwärts streben und dadurch für einander den Charakter des Zufalls
annehmen, und es so, abgerechnet die Einwirkung der Naturereignisse, un-
möglich machen, eine durchgreifende, alle umfassende Nothwendigkeit des
Geschehenden nachzuweisen. [...]“ (Grillparzer: Sämmtliche Werke, Bd. 9,
1872, 40).
291, 12-18 Schiller [...] wenn er vom Historiker sagt: „eine Erscheinung nach
der anderen fängt an, sich dem blinden Ohngefähr, der gesetzlosen Freiheit zu
entziehen und sich einem übereinstimmenden Ganzen - das freilich nur in
seiner Vorstellung vorhanden ist - als ein passendes Glied einzurei-
hen“] Das Zitat stammt (mit nur unwesentlichen Abweichungen) aus der aka-
demischen Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Uni-
versalgeschichte?, die Schiller am 26. Mai 1789 als außerordentlicher Professor
an der Universität Jena gehalten hat. (Im Titel seiner gedruckten Antrittsrede
bezeichnete er sich als Professor der Geschichte.) Mit diesem Text eröffnete er
seine Vorlesung Einführung in die Universalgeschichte (Schiller: FA, Bd. 6,
428). - N. verweist in einem Nachlass-Notat aus der Entstehungszeit von
UBII HL explizit auf Schillers Konzept der Geschichte: „Heilmittel: die
Schillersche Benutzung der Historie / ihre Gefahren (Drastiker usw.) / Be-
deutung als Warn er in, als Dämonion - ja sie warnt vor sich selber“ (NL 1873,
29 [124], KSA 7, 687). Zu N.s Rekurs auf Schiller vgl. Volker Gerhardt 1988,144,
160-161.
Kurz vor dem von N. zitierten Passus schreibt Schiller: „So würde denn
unsere Weltgeschichte nie etwas anders als ein Aggregat von Bruchstücken
werden, und nie den Namen einer Wissenschaft verdienen. Jetzt also kommt
ihr der philosophische Verstand zu Hülfe, und, indem er diese Bruchstücke
durch künstliche Bindungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum Sys-
tem, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen“ (ebd., 427). -
Eine philosophisch konzipierte Geschichtsbetrachtung kündigt bereits der Titel
von Johann Gottfried Herders vierteiligem Hauptwerk Ideen zur Philosophie der
Geschichte der Menschheit an (1784-1791). Zur Vorgeschichte gehört Voltaires
Essai sur les moeurs et l’esprit des nations (1753/54), den Lessing in der ,Vossi-
schen Zeitung4 angezeigt und als epochemachend charakterisiert hatte. Voltai-
 
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