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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0530
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504 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Nr. 307, S. 149). Mit der Idee der ,Zukunft4, die im Schlusskapitel 11 von
UB IV WB eine leitmotivische Funktion erhält, schließt N. auch an Zukunftsvi-
sionen in Wagners programmatischen Schriften Das Kunstwerk der Zukunft
(GSD III, 42-177) und „Zukunftsmusik“ an (vgl. NK 481, 12). Seinen Freundes-
kreis verstand N. in diesem Sinne als „Gesellschaft der Hoffenden“ (KSB 4,
Nr. 335, S. 185).
In der Vorstellung vom „Zaun einer grossen und umfänglichen Hoffnung“
(295, 4-5) wirkt das Plädoyer für den „Horizont“ nach, das N. bereits im 1. Ka-
pitel von UB II HL im Zusammenhang mit der plastischen Kraft4 (251) und der
Notwendigkeit,unhistorischen Empfindens4 (252) formuliert: „Und dies ist ein
allgemeines Gesetz: jedes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes ge-
sund, stark und fruchtbar werden; ist es unvermögend einen Horizont um sich
zu ziehen und zu selbstisch wiederum, innerhalb eines fremden den eigenen
Blick einzuschliessen, so siecht es matt oder überhastig zu zeitigem Untergän-
ge dahin“ (251, 28-33). Das Motiv der „Hoffnung“, die Absicht, das zeitgenössi-
sche Epigonen-Syndrom zu überwinden, und die Ausrichtung auf die „Zu-
kunft“ gehören in N.s Frühschriften zu den Hauptmotiven. Vgl. dazu auch das
Kapitel II.3 des Überblickskommentars.
Bereits seit den 1830er Jahren gehörte die Problematik der Epigonalität
zum kulturkritischen Repertoire der Epoche. Ursprünglich bezeichnet das alt-
griechische Wort ,epigonos4 (eniyovoq) wertneutral den Sohn oder Nachkom-
men. Der genealogisch-biologische Begriff,Epigone4 wurde nach der sogenann-
ten ,Kunstperiode4 der Klassik und Romantik durch Immermann kulturkritisch
umkodiert und in die geistig-künstlerische Sphäre übertragen. In seinem
Roman Die Epigonen (1836) beschreibt Immermann seine eigene Generation als
epigonal, weil sie unkreativ auf bloße Nachahmung der geistigen Vorfahren,
der Klassiker und Romantiker, fixiert sei. In diesem Sinne bezeichnet der
moderne Begriff ,Epigone4 den durch einen Mangel an Originalität gekenn-
zeichneten ,geistigen Erben4, der sich eklektizistisch an ,klassischen4 Vorbil-
dern orientiert, zugleich aber an deren Übergröße leidet. Da er traditionellen
Denkschemata verhaftet bleibt, gelangt der Epigone weder zu einem kreativen
künstlerischen Ausdruck noch zu kritisch-konstruktivem Umgang mit der Zeit-
situation.
Die neue, pejorative Bedeutung des Epigonenbegriffs fand seit den 1830er
Jahren weite Verbreitung und wurde von Autoren wie Grillparzer, Keller, Stifter
und Fontane auch literarisch reflektiert. Im Jahre 1847 diagnostiziert der
Schriftsteller und Literaturhistoriker Robert Prutz in seinen Vorlesungen über
die deutsche Literatur der Gegenwart mit Nachdruck die Epigonenproblematik.
Er beschreibt die spezifische Problemsituation der „Epigonen“, „welche die
Erbschaft ihrer großen Vorfahren weder zu erhalten wissen, noch wissen sie
 
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