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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0534
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508 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

sein Wahlspruch und seine Leidenschaft“ (Hettner 1860, Teil 2, 156). Wenig
später betont Hettner, dass für Voltaire „Sturz und Vernichtung des Christen-
thums durchaus gleichbedeutend ist mit Glück und Fortschritt der Menschheit.
Ecrasez l’infame [...] ist bei Voltaire nicht eitle Rodomontade; es ist sein tiefstes
Hoffen und Wollen“ (ebd., 168). Dieser vehemente und weit verbreitete Appell
Voltaires findet sich auch in der von N. sehr geschätzten Geschichte des Materi-
alismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart von Friedrich Albert Lan-
ge (1887, 248), die ebenso wie Hettners Literaturgeschichte zu N.s persönlicher
Bibliothek gehörte (NPB 338). Einen weiteren Beleg zu Voltaires Motto bietet
David Friedrich Strauß’ Vortragssammlung Voltaire. Sechs Vorträge (1870,
272 f.). Zum Quellennachweis vgl. Antonio Morillas-Esteban 2011c, 306-308. -
Später zitiert N. das kirchenkritische Plädoyer Voltaires auch auf der letzten
Seite von Ecce homo, und zwar als markantes Schlussvotum des 8. Abschnitts
im Kapitel „Warum ich ein Schicksal bin“, nachdem er die christliche Leib-
feindschaft und Mitleidsmoral kritisiert hat: „Und das Alles wurde geglaubt
als Moral! -Ecrasez l’infäme! — “ (KSA6, 374, 28-29).
Bezeichnenderweise adaptiert N. den Appell Voltaires in Menschliches, All-
zumenschliches für sich selbst, um ihn im Sinne seines Aufklärungsanspruchs,
aber zugleich mit antirevolutionärem Gestus umzuadressieren und nun gegen
Rousseaus revolutionären Impetus zu wenden. So schreibt N., der mit Voltaires
„Ecrasez l’infame!“ hier auch die Emphase seines Ceterum censeo übernimmt:
„Nicht Voltaire’s maassvolle, dem Ordnen, Reinigen und Umbauen zuge-
neigte Natur, sondern Rousseau’s leidenschaftliche Thorheiten und Halblü-
gen haben den optimistischen Geist der Revolution wachgerufen, gegen den
ich rufe: ,Ecrasez l’infame!4 Durch ihn ist der Geist der Aufklärung und
der fortschreitenden Entwickelung auf lange verscheucht worden:
sehen wir zu - ein Jeder bei sich selber - ob es möglich ist, ihn wieder zurück-
zurufen!“ (KSA 2, 299, 26-33). - Und in einem nachgelassenen Notat von 1887
bringt N., der selbst mehrere Voltaire-Editionen besaß (NPB 633-635), darunter
die Berliner Ausgabe von Voltaires Sämtlichen Schriften (1786), das konsequen-
te antikirchliche Verhalten von „Voltaire auf dem Sterbebette“ mit seinem
„Krieg gegen das christliche Ideal“ in Verbindung (NL 1887, 9 [18], KSA 12,
346), um die hier nur angedeutete Szene in einem wenig später entstandenen
Notat dann ausführlich und mit unverkennbarer Bewunderung zu beschrei-
ben: „Man belästigte, wie bekannt, Voltaire noch in seinen letzten Augenbli-
cken: ,glauben Sie an die Gottheit Christi?4 fragte ihn sein Cure“ zweimal; da-
raufhin „überkam den Sterbenden sein letzter Ingrimm: wüthend stieß er den
unbefugten Frager zurück: ,au nom du dieu! [...] - ne me parlez pas de cet-
homme-lä!4 - unsterbliche letzte Worte, in denen alles zusammengefaßt ist, wo-
gegen dieser tapferste Geist gekämpft hatte“ (NL 1887-88, 11 [95], KSA 13, 44).
 
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