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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0535
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Stellenkommentar UB II HL 7, KSA 1, S. 296 509

Im vorliegenden Kontext von UB II HL verbindet N. mit Voltaires Appell
„Ecrasez l’infäme“ eine polemische Spitze gegen die Theologie, indem er ihr
attestiert, sie habe sich naiv („rein aus Harmlosigkeit“) auf historische Katego-
rien und Urteilskriterien („Geschichte“) eingelassen, ohne dabei die für die
eigene Profession kontraproduktiven Folgen zu durchschauen. Auf diese Weise
habe sie unversehens sogar der Kirchenkritik ihrer Gegner zugearbeitet und
stehe dadurch „wahrscheinlich sehr wider Willen, im Dienste des Voltaire’-
schen ecrasez“ (296, 33-34). Diese Bemerkung N.s zielt auf den Paradigmen-
wechsel in der zeitgenössischen Theologie, der sich neueren historisch-kriti-
schen Forschungsmethoden verdankt. Damit spielt er zugleich auf wichtige
Impulse aus der Religionsphilosophie und Theologie an, die bis ins 18. Jahr-
hundert zurückreichen und auch den von ihm in UB I DS scharf attackierten
David Friedrich Strauß maßgeblich beeinflussten. Mit dessen Voltaire-Vorträ-
gen setzte sich N. eingehend auseinander: vgl. David Friedrich Strauß’ Voltaire.
Sechs Vorträge (1870).
In den größeren Zusammenhang der oben beschriebenen Traditionslinie
gehört schon der deistisch ausgerichtete Popularphilosoph Hermann Samuel
Reimarus (1694-1768), der im 18. Jahrhundert Bibel- und Kirchenkritik betrieb,
eine auf Vernunft gegründete ,natürliche4 Religion propagierte und dadurch
die Basis der christlichen Offenbarungsreligion in Frage stellte. (Zur Kontrover-
se um die sogenannten ,Reimarus-Fragmente‘, die Lessing nach dem Tod des
Autors anonym herausgab, und zum kulturhistorischen Kontext vgl. NK183,
14 - 184, 5.) Durch die Publikation dieser ,Reimarus-Fragmente‘ avancierte de-
ren Autor, der auch in UB I DS (innerhalb eines Zitats von David Friedrich
Strauß) erwähnt wird (KSA 1, 231, 3), postum zum Wegbereiter für die histo-
risch-bibelkritische „Leben-Jesu-Forschung“. Ernest Renan gehört ebenfalls in
diese Tradition, und zwar durch sein Buch Vie de Jesus (1863), das unter dem
Titel Das Leben Jesu in deutscher Übersetzung erschien (4. Aufl. 1864). Wäh-
rend des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 nahm David Friedrich
Strauß brieflich Kontakt zu Ernest Renan auf und publizierte später den Brief-
wechsel mit ihm (1870a). Renans Buch Vie de Jesus (Das Leben Jesu) wurde
für N.s eigene Auseinandersetzung mit dem Christentum zu einem wichtigen
Referenzmedium.
Auf David Friedrich Strauß’ Erstlingswerk Das Leben Jesu, kritisch bearbei-
tet (1835) hatte der kirchenkritische Popularphilosoph Reimarus maßgeblichen
Einfluss. Vgl. David Friedrich Strauß’ Schrift Hermann Samuel Reimarus und
seine Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes (1862) - nicht in NPB.
Mit mehreren Schriften wandte sich Strauß gegen die kompromisslerische Hal-
tung der Vermittlungstheologen, die zwar die historische Kritik als theologi-
sche Methode akzeptierten, aber dennoch auf die traditionelle Dogmatik der
 
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