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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0539
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Stellenkommentar UB II HL 7, KSA 1, S. 297 513

gels Konzept einer ,Universalpoesie4) und von einem aufgeklärt-liberalen Den-
ken bestimmt war, sich zugleich aber gegen eine radikale Aufklärung richtete,
plädiert Schleiermacher für eine universale Religion, die sich von der kirchli-
chen Institution und ihren Dogmen emanzipiert. Er selbst bekennt sich zu einer
freieren religiösen Empfindung, die zur Universalität fähig sein soll. In ihr fin-
det eine von Spinozas Pantheismus inspirierte Frühromantik Ausdruck. Zu-
gleich erhält hier auch die Beziehung des Menschen zum „Universum“ zentrale
Bedeutung. - N.s Zitate stammen aus Schleiermachers Frühschrift, sind aller-
dings auch in Rudolf Hayms Buch Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Ge-
schichte des deutschen Geistes (1870, 433, 432) zu finden, das lange Zeit hin-
durch maßgebliche Bedeutung hatte.
297, 26-31 Was man am Christenthume lernen kann, dass es unter der Wirkung
einer historisirenden Behandlung blasirt und unnatürlich geworden ist, bis end-
lich eine vollkommen historische, das heisst gerechte Behandlung es in reines
Wissen um das Christenthum auflöst und dadurch vernichtet, das kann man an
allem, was Leben hat, studiren] Im vorliegenden Kontext verfolgt N. eine dop-
pelte Argumentationsstrategie: Einerseits hebt er hier die lebensschädlichen,
ja tödlichen Folgen von „historischen Secirübungen“ generell hervor (297, 33),
um den Primat des Lebens gegenüber der Historie zu betonen und die nega-
tiven Konsequenzen des Historismus zu exponieren. Andererseits jedoch er-
scheint ihm die destruktive Wirkung der „vollkommen historische [n], das
heisst gerechte [n] Behandlung“ im speziellen Falle des Christentums berech-
tigt. Dass N. die Depotenzierung des Christentums zu einem bloß noch histori-
schen „Wissen“ sogar für wünschenswert hält und dabei gerade der ,kritischen
Historie4 eine besondere Funktion zuschreibt, zeigt ein nachgelassenes Notat
aus der Entstehungszeit von UB II HL. Hier plädiert er dafür, die kritische
Geschichtsbetrachtung uneingeschränkt auf die Religion anzuwenden: „Das
Christenthum ist ganz der kritischen Historie preiszugeben“ (NL 1873, 29 [203],
KSA 7, 711). Vgl. auch NK 296, 5-8. - Zur historischen Bibelkritik von Autoren
wie Ernest Renan und David Friedrich Strauß vgl. die Kontextualisierungen im
Überblickskommentar zu UB I DS (Kapitel 1.4 und 1.6). Zu diesen und weiteren
religionskritischen Positionen im Spektrum der Kulturgeschichte (Reimarus,
Lessing, Voltaire, Renan, Strauß, Overbeck) vgl. die Hintergrundinformationen
in NK 296, 30-34 und in NK 183, 14 - 184, 5.
Zwar unterscheidet sich N.s Konzept einer „lebensdienliche[n] Historie“
grundlegend von „Overbecks kritischer Theologie“ (vgl. Katrin Meyer 1998,
90), aber zugleich lassen sich deutliche Affinitäten in ihren Perspektiven auf
eine nach historisch-kritischen Prinzipien verfahrende liberale Theologie fest-
stellen: Beide stimmen in der Ansicht überein, dass die liberale Theologie mit
ihrer Ideologiekritik letztlich zur Auflösung des Christentums führe (vgl. ebd.,
 
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