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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0543
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Stellenkommentar UB II HL 7, KSA 1, S. 299 517

nen präfiguriert erscheinen. Dabei wird zugleich ein historisches Übergangs-
stadium sichtbar: Während Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre noch
das humanistisch-individualistische Ideal der harmonisch ausgebildeten Per-
sönlichkeit als Zielvorstellung zugrunde lag, wandelt sich die Konzeption in
Wilhelm Meisters Wanderjahren nachhaltig. Denn dieser Roman ist von einem
Arbeitsethos bestimmt, das sich mit einem gesellschaftlich orientierten, ar-
beitsteilig organisierten Gemeinschaftsprojekt verbindet und den Nutzen (also
die „Utilitäten“) intendiert. Durch diesen Wandel trägt Goethe bereits der be-
ginnenden Industrialisierung Rechnung und reflektiert zugleich die durch sie
bedingte Veränderung der realen Verhältnisse. N. nimmt auf Goethes Wilhelm-
Meister-Romane wiederholt Bezug: schon in UB III SE (vgl. KSA 1, 371, 13-17),
später in Der Fall Wagner (vgl. KSA 6, 18, 27-29), außerdem mehrfach in nach-
gelassenen Notaten (vgl. z. B. NL 1888, 16 [36], KSA 13, 496).
Implizit nimmt N. in der vorliegenden Textpartie auch auf die erfolgreichen
Bücher von John Stuart Mill Bezug, der ein utilitaristisches Konzept vertrat. N.
hatte Mills Gesammelte Werke (dt. 1869-1880) in seiner persönlichen Bibliothek
(NPB 383-390); zahlreiche Lesespuren lassen erkennen, dass er sie intensiv stu-
dierte, kommentierte und exzerpierte. Von seinen eigenen individualistischen
Prinzipien ausgehend, kritisiert N. am Utilitarismus den Primat des Nützlich-
keitsprinzips und grenzt sich dabei vor allem von einseitiger Ausrichtung auf
den gesellschaftlichen ,Nutzen4 ab. John Stuart Mill hatte 1861 in seiner Schrift
Utilitarianism das Prinzip des ,Nutzens4 programmatisch zum Fundament einer
Ethik erhoben, die das Streben nach dem größtmöglichen individuellen Glück
und gesellschaftlichen Nutzen zum zentralen Handlungszweck erklärt. Aller-
dings insistiert auch Mill selbst in seinen Werken auf dem Recht zur freien
Entfaltung der Persönlichkeit, betont die Bedeutung geistiger Eliten und grenzt
sich entschieden von einer Tyrannei der Mehrheit4 ab. Sofern liberale Prinzipi-
en in ausgewogener Weise mit einem hedonistischen Utilitarismus verbunden
werden, muss daraus kein grundsätzlicher Widerspruch zum individualisti-
schen Persönlichkeitsideal N.s resultieren. Zum Konzept der Individualität bei
Mill vgl. auch NK159, 2.
In der Morgenröthe grenzt sich N. mit Bezug auf „John Stuart Mill44 und
seine Lehre „vom Mitleiden oder vom Nutzen Anderer als dem Princip des Han-
delns“ (KSA 3, 123, 29-31) von der Ansicht ab, das Individuum solle sein Glück
in der Unterordnung unter die Interessen der Allgemeinheit finden und sein
Denken und Handeln vom Primat des gesellschaftlichen Nutzens bestimmen
lassen: als bloßes „Werkzeug des Ganzen“ (KSA 3, 124, 12). Denn Lehren mit
dieser Grundtendenz, die laut N. seit „der Zeit der französischen Revolution“
populär geworden sind und zugleich das Fundament für „alle socialistischen
Systeme“ geliefert haben (vgl. KSA 3, 124, 1-5), zielen seines Erachtens auf
 
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