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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0555
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Stellenkommentar UB II HL 8, KSA 1, S. 306-307 529

306, 32-33 ob es ewig unsere Bestimmung sein müsse, Zöglinge des sin-
kenden Alterthums zu sein] Die Vorstellung vom sinkenden Altertum, vom
allmählichen Verfall und Untergang der Antike, war vor allem in Darstellungen
der römischen Geschichte verbreitet. Vgl. dazu Montesquieus Werk Considera-
tions sur les causes de la grandeur des Romains et de leur decadence (1734).
Eines der berühmtesten Werke, das von diesem Topos ausging, stammt von
dem englischen Historiker Edward Gibbon (1737-1794) und trägt den Titel His-
tory of the Decline and Fall of the Roman Empire (1776-1788). N. studierte es in
deutscher Übersetzung und referiert daraus in der Historienschrift (325, 19).
Vgl. NK 325, 19.
307, 5-13 die noch gewaltigere Aufgabe [...], hinter diese alexandrinische Welt
zurück und über sie hinaus zu streben, und unsere Vorbilder muthigen Blicks in
der altgriechischen Urwelt des Grossen, Natürlichen und Menschlichen zu su-
chen. Dort aber finden wir auch die Wirklichkeit einer wesent-
lich unhistorischen Bildung und einer [...] deswegen unsäglich
reichen und lebensvollen Bildung] Mit der „altgriechischen Urwelt“
meint N. hier nicht die Epoche der kulturellen Blüte während der Perikleischen
Zeit, sondern die archaische Periode, auf die er sein Interesse bereits in der
Geburt der Tragödie fokussiert. Da dieser imaginäre Ursprungsbereich aller-
dings historisch kaum greifbar ist, bleibt seine von N. behauptete Wirklichkeit4
ebenso im Bereich projektiver Spekulation wie seine angeblich ,unhistorische
Bildung4. Dem Dramatiker Aischylos, dem frühesten der drei großen Tragiker
der griechischen Antike, schreibt N. archaische Charakteristika zu. In der Ge-
burt der Tragödie assoziiert er ihn mit einer besonderen Sphäre der Ursprüng-
lichkeit und bringt ihn außerdem mit den Musikdramen Wagners in Verbin-
dung. Dort reicht N.s Strategie der Analogisierung sogar so weit, dass sich
mitunter schwer feststellen lässt, ob von der griechischen Tragödie oder vom
Musikdrama Wagners die Rede ist. In UB IV WB sieht N. „zwischen Aeschylus
und Richard Wagner“ sogar „solche Nähen und Verwandtschaften“, das er sich
dadurch „an das sehr relative Wesen aller Zeitbegriffe“ erinnert fühlt (KSA 1,
446, 24-26). Indem N. Wagners Musik in eine Affinität zur Tragödie des Aischy-
los bringt, stellt er den Komponisten in eine Traditionslinie, die ganz in dessen
Sinne war. Denn Wagner selbst brachte seine besondere Wertschätzung für die
,erhabene4 Tragödie des Aischylos wiederholt zum Ausdruck. Vgl. auch
NK 446, 22 und NK 446, 23-25. Die im vorliegenden Zusammenhang relevante
Textpassage im 4. Kapitel von UB IV WB (KSA 1, 446, 19 - 447, 7) verweist
durch das Prinzip geschichtlicher Analogiebildung zugleich auch auf verbreite-
te Strategien historiographischer Darstellung und lässt insofern Affinitäten zu
UB II HL hervortreten.
 
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