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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0563
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Stellenkommentar UB II HL 8, KSA 1, S. 308 537

308, 30-32 so dass für Hegel der Höhepunkt und der Endpunkt des Weltprozes-
ses in seiner eigenen Berliner Existenz zusammenfielen] Georg Wilhelm Friedrich
Hegel (1770-1831) wirkte nach Professuren in Jena und in Heidelberg seit 1818
als Philosophieprofessor an der Berliner Universität, und zwar in der Nachfolge
Johann Gottlieb Fichtes. Als Repräsentant des Deutschen Idealismus leitete He-
gel alle Phänomene aus dem Wesen des Geistes ab: In diesem Sinne stellte
er die gesamte Wirklichkeit als dialektisch-prozessuale Selbstentwicklung und
Selbstbewusstwerdung des absoluten Geistes dar. Das von N. pointierte prozes-
suale und teleologische Moment kommt auch darin zur Geltung, dass Hegel
die logische Entwicklung der Philosophie als Wiederholung des Schöpfungs-
prozesses und der geschichtlichen Entfaltung des Seins auffasst. Nach Hegels
Überzeugung erreicht der mit dem Weltprozess korrespondierende Bewusst-
seinsprozess in der Philosophie seinen Zenit. Gegen diese Vorstellung polemi-
siert N. im vorliegenden Kontext, indem er den vermeintlichen Objektivitäts-
und Allgemeingültigkeitsanspruch des Idealisten hier ironisch auf subjektive
Egozentrik zurückführt.
Inwiefern sich mit N.s Polemik gegen die Teleologie der Hegelschen Ge-
schichtsphilosophie zugleich eine ironische Attacke auf Eduard von Hartmann
verbindet, zeigt ein nachgelassenes Notat aus der Entstehungszeit von
UB II HL; dort erklärt N.: „Der Hegelsche ,Weltprozess4 verlief sich in einen
fetten preussischen Staat mit guter Polizei. Das ist alles verkappte Theologie,
auch bei Hartmann noch. Wir vermögen aber Anfang und Ende nicht zu den-
ken: so lassen wir doch diese Entwicklung4 auf sich beruhen! Es ist sofort
lächerlich! Der Mensch und der ,Weltprozess4! Der Erdfloh und der Weltgeist!44
(NL 1873, 29 [53], KSA 7, 650). Deutlicher als im vorliegenden Kontext von
UB II HL ist hier auch zu erkennen, inwiefern N. auf Schopenhauers Polemik
gegen den Hegelianismus zurückgreift. Denn über den Kritikansatz Schopen-
hauers hinaus adaptiert N. auch Formulierungen aus der Welt als Wille und
Vorstellung II: „Endlich laufen die Konstruktionsgeschichten, von plattem Opti-
mismus geleitet, zuletzt immer auf einen behaglichen, nahrhaften, fetten Staat,
mit wohlgeregelter Konstitution, guter Justiz und Polizei, Technik und Industrie
und höchstens auf intellektuelle Vervollkomnung hinaus44 (WWVII, Kap. 38,
Hü 506). Während Schopenhauer den geschichtsphilosophischen Optimismus
Hegels auf ein naives Selbstbewusstsein im Zustand bürgerlicher Saturiertheit
zurückführt, verschärft N. diese Vorstellung, indem er den hybriden Gestus im
Antagonismus von „Erdfloh44 und „Weltgeist44 auf eine satirische Spitze treibt.
Vgl. ergänzend auch NK 308, 11-16.
308, 33-34 eine musikalische Coda des weltgeschichtlichen Rondos] N. verwen-
det hier musikalische Metaphern zur Beschreibung historischer Prozesse. Mit
,Coda4 ist der Schlussteil einer Komposition gemeint. Bei einem ,Rondo4 han-
 
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