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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0590
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564 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

schließt, zeigt ein nachgelassenes Notat aus dem Vorfeld der Entstehungszeit
von UB I DS, in dem er auf Schopenhauers Kennzeichnung des Philisters als
„apovooq avpp“ zurückgreift: „Der Philister ist ja gerade der apovooq: es ist
merkwürdig zu sehen, wie er trotzdem dazu kommt, in aesthetischen und
Kulturfragen mitreden zu wollen“ (NL 1873, TI [56], KSA 7, 603).
Auf die negativen Bedeutungsvalenzen des Philisterbegriffs bei Schopen-
hauer bezieht sich N. sowohl in UB I DS als auch in UB III SE (vgl. NK 352, 27).
In UB I DS (KSA 1,165,14) übernimmt er auch den Kontrastbegriff,Musensohn4
aus Schopenhauers Definition. - In den Aphorismen zur Lebensweisheit charak-
terisiert Schopenhauer den ,Philister4 so: „Kein Drang nach Erkenntniß und
Einsicht, um ihrer selbst Willen, belebt sein Daseyn, auch keiner nach eigent-
lich ästhetischen Genüssen [...]. Wirkliche Genüsse für ihn sind allein die sinn-
lichen: durch diese hält er sich schadlos“ (PP I, Hü 365). Laut Schopenhauer
„ist dem Philister ein dumpfer, trockener Ernst, der sich dem thierischen nä-
hert, eigen [...]“ (PP I, Hü 365). Menschen von überlegener Intellektualität erre-
gen „seinen Widerwillen, ja, seinen Haß [...]; weil er dabei nur ein lästiges
Gefühl von Inferiorität, und dazu einen dumpfen, heimlichen Neid verspürt,
den er aufs Sorgfältigste versteckt, indem er ihn sogar sich selber zu verhehlen
sucht [...]. Ein großes Leiden aller Philister ist, daß Idealitäten ihnen keine
Unterhaltung gewähren, sondern sie, um der Langenweile zu entgehn, stets
der Realitäten bedürfen“ (PP I, Hü 366).
Die charakteristische Verbindung von geistiger Mediokrität mit Phlegma,
Mißgunst und Ressentiment, durch die Schopenhauer den Philister gekenn-
zeichnet sieht, weist auf die Definition des ,Bildungsphilisters4 bei N. voraus,
der allerdings eine bornierte Selbstzufriedenheit stärker betont als Schopen-
hauer. - Vgl. weitere Belege zum ,Philister4 bei Schopenhauer (auch zur Oppo-
sition von Genie und Philister): WWVII, Kap. 31, Hü 453; WWVII, Kap. 38,
Hü 507; PP I, Hü 384; PP II, Kap. 1, § 21, Hü 20; PP II, Kap. 23, § 283, Hü 567.
Zum pejorativen Begriff,Philisterei4 in Schopenhauers Schrift Ueber die Univer-
sitäts-Philosophie vgl. auch NK 352, 27.
In nachgelassenen Fragmenten aus der Entstehungszeit von UB I DS fun-
giert die Vorstellung des ,Bildungsphilisters4 für N. als negative Leitidee. So
notiert er: „Entstehung des Philisters der Bildung [...] Der Philister hat kein
Gefühl von den Mängeln der Kultur und von dem Experimentiren bei Schiller
und Goethe. Er geht von einem starken Chauvinismus aus. Das übereilige
Aburtheilen Hegel’s und seiner Schüler hat die Meinung hervorgebracht, wir
seien auf der Höhe“ (NL 1873, TI [52], KSA 7, 602). Als philiströs beschreibt N.
hier also Manifestationen eines naiven Kulturoptimismus. In einer Gesamtdis-
position zu UB I DS nennt er Kapitelüberschriften; für Abschnitt 2 wählt er den
Titel: „Der Bildungsphilister und die Cultur“ (NL 1873, TI [53], KSA 7, 602).
 
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