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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0595
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Stellenkommentar UB II HL 10, KSA 1, S. 329 569

also bin ich“). Descartes formulierte ihn erst drei Jahre nach der Publikation
seiner Meditationen im ersten Kapitel der Principia philosophiae (Die Prinzipien
der Philosophie) von 1644. Der relevante Passus lautet in deutscher Überset-
zung folgendermaßen: „Indem wir so alles nur irgend Zweifelhafte zurückwei-
sen und für falsch gelten lassen, können wir leicht annehmen, dass es keinen
Gott, keinen Himmel, keinen Körper gibt; dass wir selbst weder Hände noch
Füße, überhaupt keinen Körper haben; aber wir können nicht annehmen, dass
wir, die wir solches denken, nichts sind; denn es ist ein Widerspruch, dass
das, was denkt, in dem Zeitpunkt, wo es denkt, nicht bestehe. Deshalb ist die
Erkenntnis: ,Ich denke, also bin ich‘ von allen die erste und gewisseste, welche
bei einem ordnungsmäßigen Philosophieren hervortritt“ (Descartes: Principia
philosophiae, 1644, Kapitel 1, Absatz 7. Vgl. auch Descartes: Die Prinzipien der
Philosophie, 2005, Kapitel 1, Absatz 7).
Ausführlicher als in UB II HL setzt sich N. in späteren Werken mit den er-
kenntnistheoretischen Reflexionen von Descartes auseinander. So gibt der Text
115 der Morgenröthe durch die skeptische Titelformulierung „Das soge-
nannte ,Ich“4 (KSA3, 107, 9) die kritische Einstellung N.s zu traditionellen
idealistischen Subjekt-Konzepten zu erkennen. Zugleich kann er als konkreter
Vorbehalt gegenüber Descartes’ Grundprinzip „ego cogito, ergo sum“ verstan-
den werden und zielt insofern auf eine radikale Diskreditierung der neuzeit-
lichen Philosophie im Anschluss an den cartesianischen Rationalismus. Vgl.
dazu die kritische Argumentation von Volker Gerhardt 2012, 45-47. Zu N.s Kant-
Kritik im Kontext seiner Subjekt-Dekonstruktion vgl. Annemarie Pieper 2012,
60-61.
Markanter tritt N.s Cartesianismus-Kritik in Jenseits von Gut und Böse her-
vor, wo er „jenes alte berühmte ,Ich‘“ verabschiedet und das „ich [...] denke“
durch „es denkt“ substituiert. Dabei vermutet N. sogar, dass „schon mit diesem
,es denkt4 zu viel gethan“ ist (KSA 5, 31, 3-8). Indem er darüber hinaus auch
bestreitet, dass die Vorstellung des ,Ich denke4 als „unmittelbare Gewissheit“
gelten kann (KSA 5, 31, 8), kritisiert N. zugleich den essentiellen Status, den
Descartes dem Grundprinzip ,Cogito, ergo sum4 (,Ich denke, also bin ich4) attes-
tierte, indem er es als ,fundamentum inconcussum4 der Erkenntnis verstand.
Eine explizite Auseinandersetzung mit Descartes bieten außerdem mehrere
Nachlass-Notate von 1885 (NL 1885, 40 [20-25], KSA 11, 637-641), in denen N.
auch den „allerbeste[n] Wille[n] de omnibus dubitare, nach Art des Cartesius,“
kritisch hinterfragt (NL 1885, 40 [20], KSA 11, 638) und hypothetisch sogar mit
der Vorstellung eines Selbstbetrugs in Verbindung bringt (ebd.), um dann mit
dem Fazit zu schließen: „In summa: es ist zu bezweifeln, daß ,das Subjekt4
sich selber beweisen kann - dazu müßte es eben außerhalb einen festen Punkt
haben und der fehlt!“ (NL 1885, 40 [20], KSA 11, 638).
 
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