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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0597
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Stellenkommentar UB II HL 10, KSA 1, S. 329 571

denschaft fortwährenden Lernens implizit auf Descartes beruft. Dabei hebt N.
den Kontrast von ,vivere‘ und ,cogitare‘, der im vorliegenden Kontext von
UB II HL dominiert, in einer höheren Synthese auf, die er zugleich mit dem
Konzept des „Amor fati“ verbindet (KSA 3, 521, 22). Das Vierte Buch der Fröhli-
chen Wissenschaft eröffnet N. mit dem Text 276, dem er auch durch den Titel
„Zum neuen Jahre“ einen besonderen Stellenwert gibt: „Noch lebe ich,
noch denke ich: ich muss noch leben, denn ich muss noch denken. Sum, ergo
cogito: cogito, ergo sum“ (KSA 3, 521, 13-15). Während N. dort affirmativ auf
den Grundsatz „cogito, ergo sum“ aus Descartes’ Principia philosophiae Bezug
nimmt und dabei zugleich die existentielle Einheit von Leben und Denken in
den Fokus rückt, bezieht er sich im vorliegenden Kontext von UB II HL kritisch
auf dieses cartesianische Prinzip, um dann die Frage, ob „das Leben über das
Erkennen“ oder „das Erkennen über das Leben herrschen“ soll (330, 30-31),
zugunsten des Lebens zu entscheiden.
In der Willensphilosophie Schopenhauers, die das Frühwerk N.s nachhal-
tig prägte und insofern auch seine Kritik an Descartes beeinflusste, hat die
Auffassung vom Primat des Willens gegenüber dem Intellekt zentrale Bedeu-
tung: „Die Erkenntniß überhaupt“ entspringt laut Schopenhauer „ursprünglich
aus dem Willen selbst“ und ist prinzipiell „zum Dienste des Willens“ bestimmt;
allerdings kann „in einzelnen Menschen die Erkenntniß sich dieser Dienstbar-
keit entziehn [...] und frei von allen Zwecken des Wollens rein für sich bestehn
[...], als bloßer klarer Spiegel der Welt, woraus die Kunst hervorgeht“ (WWVI,
§ 27, Hü 181). Dass N. in den Unzeitgemässen Betrachtungen dieser Überzeu-
gung Schopenhauers folgt und sogar seine Spiegel-Metaphorik übernimmt, er-
hellt exemplarisch aus einer Textpassage in UB III SE: vgl. KSA 1, 378, 7-10
(und die Belege in NK 378, 7-10). Laut Schopenhauer „gehört das Gehirn und
dessen Funktion, das Erkennen, also der Intellekt, mittelbar und sekundär zur
Erscheinung des Willens: auch in ihm objektivirt sich der Wille und zwar
als Wille zur Wahrnehmung der Außenwelt, also als ein Erkennenwollen“
(WWV II, Kap. 20, Hü 293). In diesem Sinne gilt: „Wie der Intellekt physiolo-
gisch sich ergiebt als die Funktion eines Organs des Leibes; so ist er metaphy-
sisch anzusehn als ein Werk des Willens“ (ebd.). Die unterschiedlichen Mani-
festationen des Willens charakterisiert Schopenhauer folgendermaßen: „Der
Wille, welcher rein an sich betrachtet, erkenntnißlos und nur ein blinder, un-
aufhaltsamer Drang ist, wie wir ihn noch in der unorganischen und vegetabili-
schen Natur und ihren Gesetzen, wie auch im vegetativen Theil unsers eigenen
Lebens erscheinen sehn, erhält durch die hinzugetretene, zu seinem Dienst
entwickelte Welt der Vorstellung die Erkenntniß von seinem Wollen [...]. Wir
nannten deshalb die erscheinende Welt seinen Spiegel, seine Objektität“
(WWV I, § 54, Hü 323). Und Schopenhauer fährt fort: „Da der Wille das Ding
 
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