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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0600
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574 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

scheidende?“ (330, 30-32) beantwortet N. mit dem Gestus der Selbstver-
ständlichkeit zugunsten des Lebens, so dass im vorliegenden Argumentations-
zusammenhang die Wissenschaft per se zweitrangig erscheint.
Den Begriff ,Erdbeben4 verwendet N. auch in UB III SE und UBIV WB in
metaphorischem Sinne: Während er in UB III SE mit Bezug auf die Französi-
sche Revolution von 1789 von „ungestümen Revolutionen“ sowie von „socialis-
tischen Erzitterungen und Erdbeben“ spricht (KSA 1, 369, 13-15), thematisiert
er in UB IV WB die „Zeiten der Erdbeben und Umstürze“ (KSA 1, 504, 20). Vgl.
dazu NK 369, 12-15 und NK 504, 18-21. In der damaligen Zeit hatte sich die
Vorstellung des ,Erdbebens4 schon längst als Revolutionsmetapher etabliert. So
konnte N. an diesen bereits seit der Französischen Revolution im kulturpoliti-
schen Diskurs präsenten Topos anschließen. Den negativen Valeur dieses Vor-
stellungskomplexes für N. gibt bereits Die Geburt der Tragödie zu erkennen:
Wie zahlreiche zeitgenössische Bildungsbürger fürchtete auch N. die „allmäh-
lich in eine drohende und entsetzliche Forderung“ übergehenden „socialis-
tischen Bewegungen der Gegenwart“ (KSA 1, 122, 34 - 123, 2).
Im vorliegenden Kontext von UB II HL dominiert in N.s Vorstellung eines
,Begriffsbebens4 die Negativität, weil „das Leben selbst“ durch solche Wirkun-
gen der Wissenschaft „schwächlich und muthlos“ wird (330, 26-27). Im
20. Jahrhundert deutet der französische Epistemologe Gaston Bachelard diese
Aussage N.s um: Denn er macht sie zum Ausgangspunkt wissenschaftstheoreti-
scher Reflexionen, indem er Diskontinuität als ein wesentliches Charakteristi-
kum der Wissenschaft begreift, deren Entwicklung mithin nicht linear verläuft.
In seinem Text Die philosophische Dialektik in der Begriffswelt der Relativität
versieht Bachelard N.s Vorstellung von einem ,Begriffsbeben4 mit einer tenden-
ziell positiven Bedeutung. Zwar implizieren wissenschaftliche Umbrüche eine
Diskontinuität der Wissenschaftsgeschichte, aber mit weitreichenden kon-
struktiven Folgen. Denn sie bringen zugleich Fortschritte mit sich, durch die
sich die Lebenssituation der gesamten Gesellschaft nachhaltig verbessern
kann, etwa durch zukunftsweisende technische Revolutionen. Vermutlich auch
in diesem Sinne reflektiert Bachelard die „systematische Revolution der Grund-
begriffe“, für die innerhalb der Naturwissenschaften die Relativitätstheorie Al-
bert Einsteins ein markantes Beispiel darstellt: „In der Wissenschaft vollzieht
sich nun das, was Nietzsche ein,Begriffsbeben4 genannt hat, so als ob die Erde,
das Universum, die Dinge eine andere Struktur bekommen hätten, seitdem ihre
Erklärung auf neuen Fundamenten ruht. Die ganze rationale Organisation
,bebt4, wenn die Grundbegriffe einer dialektischen Wandlung unterzogen wer-
den“ (Bachelard 1955, 413). Indem Bachelard N.s Metapher „B e g r i f f s b e b e n“
(330, 27) auf eine solche „systematische Revolution der Grundbegriffe“ bezieht
(Bachelard 1955, 413), thematisiert er das Phänomen, das seit Thomas S. Kuhns
 
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