576 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
um notierte N. zum Ende seiner Historienschrift: „Schluss. Es giebt eine Gesell-
schaft der Hoffenden“ (NL 1873, 29 [196], KSA 7, 709). Dass diese Aussage auch
biographisch geprägt ist, zeigt ein Brief an Carl von Gersdorff, in dem N. seinen
Freundeskreis am 26. Dezember 1873 explizit als „Gesellschaft der Hoffenden“
bezeichnet (KSB 4, Nr. 335, S. 185). - Eine hoffnungsvolle Einstellung trotz aller
Gegenwartskritik und die bewusste Ausrichtung auf die Zukunft spielten im
Umfeld des jungen N. eine große Rolle. Dass solchen Vorstellungen in seinem
Frühwerk besondere Bedeutung zukommt, ist gerade in UBII HL in den Appel-
len an die Jugend sehr deutlich zu erkennen (vgl. 331, 31 - 332, 5). Allerdings
gilt dies zuvor auch bereits für die Geburt der Tragödie. So appelliert N. am
Ende von GT 24 an die Freunde, seine „Hoffnungen [zu] verstehen“ (KSA 1,
154, 21-22). Von diesem Appell in der Schlusspassage der Historienschrift sah
sich der Soziologe Ferdinand Tönnies besonders angesprochen; das zeigt seine
Aussage im Rückblick auf das Lektüreerlebnis: „Ich kaufte sie und war tief
bewegt“ (Tönnies 1922, 204).
Das vorliegende Lemma steht im Textzusammenhang des durch rhetori-
sche Stilmittel emphatisch gestalteten Schlusskapitels von UB II HL. Den pas-
sagenweise appellativen oder sogar „exhortativen“ (KSA 1, 132, 21) Gestus sei-
ner Historienschrift forciert N. hier durch die Fragen: „Soll nun das Leben über
das Erkennen, über die Wissenschaft, soll das Erkennen über das Leben herr-
schen? Welche von beiden Gewalten ist die höhere und entscheidende? Nie-
mand wird zweifeln: das Leben ist die höhere, die herrschende Gewalt“ (330,
30-33). Auch seine Hoffnung auf eine Therapie der historischen Krankheit4,
die in UB II HL den Fokus der kritischen Zeitdiagnose bildet, bringt N. durch
rhetorische Pointierung zum Ausdruck. Dabei antizipiert er bereits die „Herr-
schaft des Lebens“, indem er Perspektiven auf eine genuine Humanität der
Menschen in der Zukunft entfaltet: „sie sind, an jenem Endpunkte ihrer Hei-
lung, wieder Menschen geworden und haben aufgehört, menschenähnliche
Aggregate zu sein - das ist etwas! Das sind noch Hoffnungen! Lacht euch nicht
dabei das Herz, ihr Hoffenden? / Und wie kommen wir zu jenem Ziele? werdet
ihr fragen“ (332, 30-34). - Durch gezielt eingesetzte rhetorische Fragen und
die explizite Einbeziehung der Leser versucht N. hier größeren Nachdruck zu
erzeugen, um auf diese Weise die Wirksamkeit seiner Gedanken zu intensivie-
ren. Derartige Stilmittel dominieren mit besonderer Ausprägung dann in N.s
Spätschriften, wo sie - mitunter bis zu manieristischer Virtuosität gesteigert -
sogar als rhetorische Rauschmittel erscheinen können, die dem Zweck dienen,
die Leser mithilfe starker Effekte zu provozieren (vgl. Jochen Schmidt 2016, 44-
48).
Insgesamt ist das Konzept der Unzeitgemässen Betrachtungen maßgeblich
durch kritische Gegenwartsdiagnosen und eine programmatische Zukunftsori-
um notierte N. zum Ende seiner Historienschrift: „Schluss. Es giebt eine Gesell-
schaft der Hoffenden“ (NL 1873, 29 [196], KSA 7, 709). Dass diese Aussage auch
biographisch geprägt ist, zeigt ein Brief an Carl von Gersdorff, in dem N. seinen
Freundeskreis am 26. Dezember 1873 explizit als „Gesellschaft der Hoffenden“
bezeichnet (KSB 4, Nr. 335, S. 185). - Eine hoffnungsvolle Einstellung trotz aller
Gegenwartskritik und die bewusste Ausrichtung auf die Zukunft spielten im
Umfeld des jungen N. eine große Rolle. Dass solchen Vorstellungen in seinem
Frühwerk besondere Bedeutung zukommt, ist gerade in UBII HL in den Appel-
len an die Jugend sehr deutlich zu erkennen (vgl. 331, 31 - 332, 5). Allerdings
gilt dies zuvor auch bereits für die Geburt der Tragödie. So appelliert N. am
Ende von GT 24 an die Freunde, seine „Hoffnungen [zu] verstehen“ (KSA 1,
154, 21-22). Von diesem Appell in der Schlusspassage der Historienschrift sah
sich der Soziologe Ferdinand Tönnies besonders angesprochen; das zeigt seine
Aussage im Rückblick auf das Lektüreerlebnis: „Ich kaufte sie und war tief
bewegt“ (Tönnies 1922, 204).
Das vorliegende Lemma steht im Textzusammenhang des durch rhetori-
sche Stilmittel emphatisch gestalteten Schlusskapitels von UB II HL. Den pas-
sagenweise appellativen oder sogar „exhortativen“ (KSA 1, 132, 21) Gestus sei-
ner Historienschrift forciert N. hier durch die Fragen: „Soll nun das Leben über
das Erkennen, über die Wissenschaft, soll das Erkennen über das Leben herr-
schen? Welche von beiden Gewalten ist die höhere und entscheidende? Nie-
mand wird zweifeln: das Leben ist die höhere, die herrschende Gewalt“ (330,
30-33). Auch seine Hoffnung auf eine Therapie der historischen Krankheit4,
die in UB II HL den Fokus der kritischen Zeitdiagnose bildet, bringt N. durch
rhetorische Pointierung zum Ausdruck. Dabei antizipiert er bereits die „Herr-
schaft des Lebens“, indem er Perspektiven auf eine genuine Humanität der
Menschen in der Zukunft entfaltet: „sie sind, an jenem Endpunkte ihrer Hei-
lung, wieder Menschen geworden und haben aufgehört, menschenähnliche
Aggregate zu sein - das ist etwas! Das sind noch Hoffnungen! Lacht euch nicht
dabei das Herz, ihr Hoffenden? / Und wie kommen wir zu jenem Ziele? werdet
ihr fragen“ (332, 30-34). - Durch gezielt eingesetzte rhetorische Fragen und
die explizite Einbeziehung der Leser versucht N. hier größeren Nachdruck zu
erzeugen, um auf diese Weise die Wirksamkeit seiner Gedanken zu intensivie-
ren. Derartige Stilmittel dominieren mit besonderer Ausprägung dann in N.s
Spätschriften, wo sie - mitunter bis zu manieristischer Virtuosität gesteigert -
sogar als rhetorische Rauschmittel erscheinen können, die dem Zweck dienen,
die Leser mithilfe starker Effekte zu provozieren (vgl. Jochen Schmidt 2016, 44-
48).
Insgesamt ist das Konzept der Unzeitgemässen Betrachtungen maßgeblich
durch kritische Gegenwartsdiagnosen und eine programmatische Zukunftsori-