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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0605
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Stellenkommentar UB II HL 10, KSA 1, S. 332-333 579

cpoiq, oute Acyci oute KpvnTst üAAd aripaivEi.“ („Der Herr, dem das Orakel in
Delphi gehört, sagt nichts und verbirgt nichts, sondern deutet hin“.) Vgl. auch
die Erläuterung im folgenden Stellenkommentar.
333, 17-26 Die Griechen lernten allmählich das Chaos zu organisiren,
dadurch dass sie sich, nach der delphischen Lehre, auf sich selbst, das heisst auf
ihre ächten Bedürfnisse zurück besannen So ergriffen sie wieder von sich
Besitz; sie blieben nicht lange die überhäuften Erben und Epigonen des ganzen
Orients; sie wurden [...] durch die praktische Auslegung jenes Spruches, die
glücklichsten Bereicherer und Mehrer des ererbten Schatzes und die Erstlinge
und Vorbilder aller kommenden Culturvölker] Dies ist N.s eigene „Auslegung“
des delphischen Spruches „Erkenne dich selbst“ (yvcüöi oavTÖv) und seine Ant-
wort auf die rhetorische Frage am Ende des vorangegangenen Abschnitts:
„Worauf weist er euch hin?“ (333, 5). N. referiert hier die Aussage Heraklits:
Der Delphische Gott „verbirgt nicht und verkündet nicht, sondern zeigt nur
hin“ (332, 34 - 333, 4). Dann adaptiert N. selbst die Rolle des Auslegers, indem
er das Orakel bewusst im Hinblick auf seine Zeitgenossen deutet, die er mit
„euch“ anredet („Worauf weist er euch hin?“). Im Zusammenhang damit for-
muliert N. eine kritische Diagnose der zeitgenössischen ,Cultur‘, die er als epi-
gonal beschreibt: als spätzeitliches Konglomerat aus Einflüssen fremder Kultu-
ren.
N.s Darlegungen über die Griechen und ihre „praktische Auslegung jenes
Spruches“ erweisen sich dabei als eine interessengelenkte Rückprojektion die-
ser kritischen Zeitdiagnose und der kulturtherapeutischen Maßnahme, die er
gegen die Übermacht fremdartiger Einflüsse empfiehlt: N. propagiert die Rück-
besinnung auf die abendländische Kulturtradition und den ,Mythus4, dem er
den Wert eines „ererbten Schatzes“ zuspricht. - In der Geburt der Tragödie und
in Nachlass-Notaten wendet sich N. unter Rekurs auf Wagners Konzepte dem
germanischen „Mythus“ zu. Seines Erachtens ist es für eine Kultur von elemen-
tarer Notwendigkeit, sich von fremden Prägungen zu befreien, die eine Entfal-
tung ihrer Eigenwertigkeit verhindern könnten: „Die französische Civilisation“
zählt N. mit zu den „unheimischen Formen“, von denen die deutsche Kultur
seines Erachtens nicht länger abhängig sein soll (vgl. NL 1870-72, 8 [47], KSA 7,
241). Vor allem die Musikdramen Wagners betrachtet N. in dieser Hinsicht als
vorbildlich: „Richard Wagner. Das Erwachen der deutschen Kunst. / Das er-
wachte Volkslied - Goethe / und die Beethovensche Musik. Dionysische Ent-
wicklung. / ,Der dionysische Mensch.4 / Der Mythus - durch die tiefere Philoso-
phie vorbereitet. / Abwertung der unheimischen Formen [...]“ (ebd.). Und am
Ende dieses Notats heißt es: „Rückkehr zum deutschen Mythus durch Wag-
ner. / Mit Mythus und Volkslied stürzt er alle uneinheimischen Gattungen“
(ebd.).
 
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