580 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
Mit seinem Vorschlag, „das Chaos zu organisiren“, orientiert sich N.
ebenfalls an Wagner. In der Historienschrift versteht er unter dem ,Chaos4 die
,alexandrinisch‘-spätzeitliche „Cultur“ des 19. Jahrhunderts. Und in UB IV WB
erklärt er, gegen sie sei „jetzt eine Reihe von Gegen-Alexandern nöthig [...]
In Wagner erkenne ich einen solchen Gegen-Alexander: er bannt und schliesst
zusammen [...] in so fern gehört er zu den ganz grossen Culturgewalten“
(KSA 1, 447, 17-29). Mit dieser Charakterisierung folgt N. der Selbsteinschät-
zung Wagners, der in mehreren seiner theoretischen Schriften das Prinzip der
Verdichtung4 für seine Kompositionen reklamierte.
Insgesamt entspricht N.s gedankliche Strategie in der vorliegenden Text-
partie dem analogisierenden und typologisierenden Konzept, das er bereits in
der Geburt der Tragödie anwandte und das er in UB II HL dann als ,überhisto-
risch4 bezeichnet. In der Geburt der Tragödie rückt N. die griechische Tragödie
in eine Analogie zum Musikdrama Wagners, das er dabei zugleich als ,Wieder-
geburt4 der Tragödie begreift. In UB IV WB charakterisiert er sein eigenes Vor-
gehen folgendermaßen: „wir erleben Erscheinungen, welche so befremdend
sind, dass sie unerklärbar in der Luft schweben würden, wenn man sie nicht,
über einen mächtigen Zeitraum hinweg, an die griechischen Analogien an-
knüpfen könnte. So giebt es zwischen Kant und den Eleaten, zwischen Scho-
penhauer und Empedokles, zwischen Aeschylus und Richard Wagner solche
Nähen und Verwandtschaften, dass man fast handgreiflich an das sehr relative
Wesen aller Zeitbegriffe gemahnt wird: beinahe scheint es, als ob manche Din-
ge zusammen gehören und die Zeit nur eine Wolke sei, welche es unseren
Augen schwer macht, diese Zusammengehörigkeit zu sehen44 (KSA 1, 446, 19-
29). - N.s Freund Erwin Rohde, der UB II HL vor der Drucklegung kritisch las,
kommentierte diese Analogiebildungen so: „Die Parallele wäre ganz herrlich,
wenn sie nur auf sicheren Thatsachen sich genügend stützte: das bezweifle
ich. Dann aber verlöre sie wieder alle Kraft“ (KSA 14, 73). - Zum Epochen-
syndrom der Epigonalität vgl. auch die ausführlichen Stellenkommentare zu
UB II HL (295, 4-7) sowie zu UB IDS (KSA 1, 169, 15-18) und UB IIISE (KSA 1,
344, 31-34; 350, 20-21).
Durch das Therapeutikum per analogiam, das N. mit Blick auf die Antike
für die zeitgenössische Problemkonstellation vorschlägt, ergibt sich zugleich
eine thematische Vernetzung mit der Anfangspassage der Historienschrift:
Denn im „Vorwort“ erblickt er den „Sinn“ der ,,classische[n] Philologie“ in sei-
ner eigenen Zeit darin, „in ihr unzeitgemäss - das heisst gegen die Zeit und
dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit - zu
wirken“ (247, 8-11). Aus N.s Perspektive eignen sich die Griechen der Antike
als Vorbilder für die Moderne, weil sie die für ihre eigene Identität bedrohliche
Überfülle kultureller Einflüsse zu bewältigen vermochten: Indem die „Epigo-
Mit seinem Vorschlag, „das Chaos zu organisiren“, orientiert sich N.
ebenfalls an Wagner. In der Historienschrift versteht er unter dem ,Chaos4 die
,alexandrinisch‘-spätzeitliche „Cultur“ des 19. Jahrhunderts. Und in UB IV WB
erklärt er, gegen sie sei „jetzt eine Reihe von Gegen-Alexandern nöthig [...]
In Wagner erkenne ich einen solchen Gegen-Alexander: er bannt und schliesst
zusammen [...] in so fern gehört er zu den ganz grossen Culturgewalten“
(KSA 1, 447, 17-29). Mit dieser Charakterisierung folgt N. der Selbsteinschät-
zung Wagners, der in mehreren seiner theoretischen Schriften das Prinzip der
Verdichtung4 für seine Kompositionen reklamierte.
Insgesamt entspricht N.s gedankliche Strategie in der vorliegenden Text-
partie dem analogisierenden und typologisierenden Konzept, das er bereits in
der Geburt der Tragödie anwandte und das er in UB II HL dann als ,überhisto-
risch4 bezeichnet. In der Geburt der Tragödie rückt N. die griechische Tragödie
in eine Analogie zum Musikdrama Wagners, das er dabei zugleich als ,Wieder-
geburt4 der Tragödie begreift. In UB IV WB charakterisiert er sein eigenes Vor-
gehen folgendermaßen: „wir erleben Erscheinungen, welche so befremdend
sind, dass sie unerklärbar in der Luft schweben würden, wenn man sie nicht,
über einen mächtigen Zeitraum hinweg, an die griechischen Analogien an-
knüpfen könnte. So giebt es zwischen Kant und den Eleaten, zwischen Scho-
penhauer und Empedokles, zwischen Aeschylus und Richard Wagner solche
Nähen und Verwandtschaften, dass man fast handgreiflich an das sehr relative
Wesen aller Zeitbegriffe gemahnt wird: beinahe scheint es, als ob manche Din-
ge zusammen gehören und die Zeit nur eine Wolke sei, welche es unseren
Augen schwer macht, diese Zusammengehörigkeit zu sehen44 (KSA 1, 446, 19-
29). - N.s Freund Erwin Rohde, der UB II HL vor der Drucklegung kritisch las,
kommentierte diese Analogiebildungen so: „Die Parallele wäre ganz herrlich,
wenn sie nur auf sicheren Thatsachen sich genügend stützte: das bezweifle
ich. Dann aber verlöre sie wieder alle Kraft“ (KSA 14, 73). - Zum Epochen-
syndrom der Epigonalität vgl. auch die ausführlichen Stellenkommentare zu
UB II HL (295, 4-7) sowie zu UB IDS (KSA 1, 169, 15-18) und UB IIISE (KSA 1,
344, 31-34; 350, 20-21).
Durch das Therapeutikum per analogiam, das N. mit Blick auf die Antike
für die zeitgenössische Problemkonstellation vorschlägt, ergibt sich zugleich
eine thematische Vernetzung mit der Anfangspassage der Historienschrift:
Denn im „Vorwort“ erblickt er den „Sinn“ der ,,classische[n] Philologie“ in sei-
ner eigenen Zeit darin, „in ihr unzeitgemäss - das heisst gegen die Zeit und
dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit - zu
wirken“ (247, 8-11). Aus N.s Perspektive eignen sich die Griechen der Antike
als Vorbilder für die Moderne, weil sie die für ihre eigene Identität bedrohliche
Überfülle kultureller Einflüsse zu bewältigen vermochten: Indem die „Epigo-