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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0607
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Stellenkommentar UB II HL 10, KSA 1, S. 333-334 581

nen des ganzen Orients“ schließlich „das Chaos zu organisiren“ lernten,
wurden sie „die glücklichsten Bereicherer“ des kulturellen Erbes und zugleich
die „Erstlinge und Vorbilder aller kommenden Culturvölker“ (333, 17-26). Vgl.
auch NK 247, 7-11.
Das Spannungsfeld zwischen Epigonen und Erstlingen, zwischen resigna-
tiver Traditionsbindung und zukunftsorientierter Avantgardisten-Rolle führt N.
im Text 337 der Fröhlichen Wissenschaft weiter. Dort entwirft er vom Stand-
punkt der Zukunft aus eine Retrospektive auf die eigene Epoche: „Wenn ich
mit den Augen eines fernen Zeitalters nach diesem hinsehe, so weiss ich an
dem gegenwärtigen Menschen nichts Merkwürdiges zu finden, als seine eigen-
thümliche Tugend und Krankheit, genannt ,der historische Sinn4. Es ist ein
Ansatz zu etwas ganz Neuem und Fremdem in der Geschichte“ (KSA 3, 564,
13-18), der nach ,,einige[n] Jahrhunderte[n]“ Chancen zu „wundervollen“ Ent-
wicklungen eröffnen könnte (KSA 3, 564, 19-21). Allerdings ist der Status quo
der Gegenwart davon weit entfernt: „der historische Sinn ist noch etwas so
Armes und Kaltes, und Viele werden von ihm wie von einem Froste befallen
und durch ihn noch ärmer und kälter gemacht. Anderen erscheint er als das
Anzeichen des heranschleichenden Alters, und unser Planet gilt ihnen als ein
schwermüthiger Kranker, der, um seine Gegenwart zu vergessen, sich seine
Jugendgeschichte aufschreibt“ (KSA 3, 564, 27 - 565, 2). Obwohl dieses Deca-
dence-Szenario den Eindruck lebensferner Nostalgie aus Defätismus vermittelt,
sieht N. aus der Situation des Epigonen, der „der Erbe aller Vornehmheit alles
vergangenen Geistes“ ist, eine zukunftsweisende Sonderrolle entspringen: als
„Erstling eines neuen Adels, dessen Gleichen noch keine Zeit sah und träumte“
(KSA 3, 565, 16-19).
334,1-4 So entschleiert sich ihm der griechische Begriff der Cultur - im Gegen-
sätze zu dem romanischen - der Begriff der Cultur als einer neuen und verbesser-
ten Physis, ohne Innen und Aussen] Die Griechen hatten keinen „Begriff“ von
„Cultur“ in dem von N. gemeinten Sinne, sondern einen Begriff von „Bildung“
(nouÖEia), der sich allerdings von demjenigen unterscheidet, der seit der zwei-
ten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland entwickelt wurde. N. meint mit
dem „romanischen“ Begriff von „Cultur“ die französische Zivilisation4. Der Ge-
gensatz zwischen (deutscher) ,Kultur4 und (französischer) Zivilisation4 war in
der damaligen Zeit bereits seit langem zu einer antiromanischen Schablone
geworden, in die auch die Opposition zwischen Innerlichkeit und Äußerlich-
keit hineinwirkte. Richard Wagner betonte emphatisch die deutsche Innerlich-
keit und wertete zugleich alles Romanische ab, vor allem in seiner Festschrift
Beethoven, die er während des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 zum
100. Geburtstag Beethovens verfasste. - Eine Affinität zwischen dem deutschen
und dem griechischen Wesen, die bereits seit der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
 
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