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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0036
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16 Jenseits von Gut und Böse

Z. 31-33) JGB erschien N. noch in seinen letzten bewussten Lebenswochen als
eine für seine ganze Denkhaltung repräsentative Schrift: „Zunächst sollen die
beiden capitalen Bücher Jenseits von Gut und Böse und die Götzen-
Dämmerung übersetzt werden: damit bin ich in Frankreich vorgestellt.“
(N. an August Strindberg, 18.12.1888, KSB 8/KGBIII/5, Nr 1199, S. 539 f., Z. 45-
47) JGB ist für N. mehr als ein Buch, das bloß die „Nachtruhe“ stört (vgl. NL1888,
KSA13,19[1]4, 540, 21-541, 2 u. NK KSA 6, 302, 24-26).
Die ausführlichste Interpretation, die N. selbst JGB angedeihen ließ, findet
sich in den Retraktationen seiner eigenen Schriften, einem Hauptteil seiner
Autogenealogie Ecce homo (EH). Dort sind JGB zwei Abschnitte gewidmet, die
das Werk freilich nicht als Kommentar oder Glossar zu Za darstellen, sondern
als seinen eigentlichen Gegensatz (dazu ausführlich NK 6/2, S. 572-577). Nach
EH ist JGB in Konzeption und Struktur das negative Spiegelbild von Za (vgl.
auch Strauss 1983, 174). Werde dort ausgeführt und geantwortet, so in JGB
verrätselt und gefragt. „Nachdem der jasagende Theil meiner Aufgabe gelöst
war, kam die neinsagende, neinthuende Hälfte derselben an die Reihe: die
Umwerthung der bisherigen Werthe selbst, der grosse Krieg, — die Heraufbe-
schwörung eines Tags der Entscheidung.“ (EH JGB 1, KSA 6, 350, 6-10) Aber
weder in der Verneinung noch im apokalyptischen Drängen nach einer Ent-
scheidung im Weltkrieg der Moralen soll sich JGB erschöpfen; zugleich gehört
die Schrift, wie bereits zitiert, im Verein mit den anderen Werken nach Za zu
den „Angelhaken“: „Wenn Nichts sich fieng, so liegt die Schuld nicht an
mir. Die Fische fehlten ... “ (KSA 6, 350,13-16) Die negierende Dimension
von JGB sieht N. nun darin, dass das Buch „in allem Wesentlichen eine Kritik
der Modernität “ sei, „die modernen Wissenschaften, die modernen Küns-
te, selbst die moderne Politik nicht ausgeschlossen“ (EH JGB 2, KSA 6, 350,18-
20). Die Verneinung betrifft das, was die Gegenwart hochschätzt, „die berühm-
te »Objektivität4 zum Beispiel, das »Mitgefühl mit allem Leidenden4, der »histori-
sche Sinn4 mit seiner Unterwürfigkeit vor fremdem Geschmack [...], die »Wissen-
schaftlichkeit444 (KSA 6, 351, 4-8). Diese polemische Fokussierung auf die eige-
ne Zeit, die N. JGB zuschreibt, erlaubt es ihm, den Unterschied zwischen
diesem Werk und Za an einer unterschiedlichen Perspektive, ja an der Notwen-
digkeit einer unterschiedlichen Perspektivierung festzumachen: „Das Auge,
verwöhnt durch eine ungeheure Nöthigung fern zu sehn [...], wird hier ge-
zwungen, das Nächste, die Zeit, das Um-uns scharf zu fassen.“ (KSA 6, 351,
10-13) Immerhin ist es noch dasselbe „Auge“, das hier blickt - so viel Kontinui-
tätsbehauptung bleibt bestehen -, aber dieses Auge schaut auf etwas anderes
und damit anders. Auch wenn man das für JGB beanspruchte „Raffinement in
Form, in Absicht, in der Kunst des Schweigens“ (KSA 6, 351, 16f.) in Rech-
nung stellt, ist deutlich, dass das Werk nun keineswegs mehr als Kommentar
oder als Glossar der Hauptbegriffe von Za dienen zu können scheint, sondern
 
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